Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
ein.
Sie versuchte, ihn streng anzusehen, musste aber unweigerlich lächeln. »Versuchen Sie es. Vielleicht hilft es, wenn Sie die Augen schließen.«
Grummelnd folgte Gabriel ihrem Vorschlag. Er schloss die Augen. »Ich sehe nichts«, sagte er sofort.
»Haben Sie mir nicht in Karakorum geraten, geduldig zu sein? Geben Sie sich etwas Zeit.« Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme und musste selbst lächeln. Ihr Ton klang jetzt leise und verführerisch. »Sie befinden sich in einer anderen Welt als zuvor. Lassen Sie den Soldaten in sich los. Hier geht es nicht um Drill, es gibt kein Richtig oder Falsch. Verstanden?« Als er nickte, fuhr sie fort: »Rufen Sie sich jetzt das Lied in Erinnerung. Lassen Sie sich Zeit. Es kommt, wenn es kommen soll. Und wenn es da ist, lassen Sie sich einfach von ihm führen.«
Keiner seiner befehlshabenden Offiziere hatte je etwas so Seltsames von ihm verlangt. Doch er hielt die Augen geschlossen und ließ seine Gedanken zurück zu dem Lied wandern. Er glaubte nicht, dass er sich gut an die Melodie erinnern konnte, und als es ihm nicht sofort gelang, kämpfte er mit seiner Ungeduld. Doch nachdem er sich von ihr befreit hatte, schien das Lied von ganz allein in seinen Kopf zurückzukehren. Als wäre es irgendwo vergraben gewesen und hätte nur auf einen ruhigen Moment gewartet, um hervorzukommen. Die Töne erfüllten ihn, und er ließ sich von ihnen entführen. Genau wie das Land war die Melodie von einer wilden, rauen Schönheit. Landschaften beeindruckten ihn normalerweise nicht sonderlich – entweder hatte er einen Auftrag, oder er versuchte, für eine Mission geografische Rätsel zu lösen. Doch als er sich den Steppen und felsigen Hügeln der Mongolei überließ, passierte etwas mit ihm. Es erschien ihm überaus passend, dass Thalia Burgess zu diesem Land gehörte. Je mehr er es kennenlernte, desto mehr verstand er, dass sie hier lebte. Und er spürte, dass sowohl das Land als auch die Frau sehr abweisend sein konnten, wenn man mit ihrem harschen Klima nicht umzugehen wusste.
»Sie haben es geschafft!«, sagte Thalia erstaunt und erfreut zugleich.
Gabriel öffnete die Augen.
Und sah sich mit einem weiteren Wunder konfrontiert. Er hatte etwas gezeichnet. Kein bedeutungsloses Gekritzel, sondern einen richtigen Baum an der Gabelung zweier Flüsse. Völlig unbewusst hatte er die Kohle über das Papier bewegt und gar nicht gemerkt, dass er ein Bild geschaffen hatte.
Nach diesem kleinen Erfolg beschlossen sie, zu Bett zu gehen, und schon bald lagen alle auf ihren Schlafmatten. Die Laterne hatten sie gelöscht, der Raum lag still und dunkel da.
Für Gabriel wurde es eine harte Nacht. Er hatte sich zwar daran gewöhnt, neben Thalia zu schlafen, allerdings nicht in einem Zimmer. Die Situation innerhalb von vier Wänden und mit einem Dach über dem Kopf fühlte sich ganz anders an als in den unendlichen Steppen unter dem weiten Himmel. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal neben einer Frau geschlafen hatte, doch es fiel ihm nicht ein. Bei Felicia hatte er sich aus dem Bett geschlichen, sich schnell im Dunkeln angezogen und bei Morgengrauen in seiner eigenen Koje gelegen.
In dem Zimmer des Klosters hörte Gabriel Thalia im Schlaf atmen. Ihre leisen Geräusche schienen ihm intimer als Felicias Lustschreie, als sie und Gabriel miteinander geschlafen hatten. Auch wenn Batu dicht bei ihnen schlief, erlebte Gabriel eine lange, unruhige Nacht und bekam zu wenig Schlaf.
Als der Morgen graute, war er dankbar, wieder nach draußen zu kommen. Sie ritten in südlicher Richtung, da sich das für Gabriel richtig anfühlte . Es gefiel ihm nicht, Thalias und Batus Leben etwas anzuvertrauen, das er nicht verstand. Doch sie konnten sich nur an den Impressionen aus dem Lied der Schamanin orientieren. Stundenlang ritten sie schweigsam hintereinander her, denn Gabriel versuchte, sich daran zu erinnern, wie sich das Lied angefühlt hatte. Verdammt frustrierend.
Nachdem sich bis kurz vor Mittag kein Hinweis auf den Baum oder die Flüsse fand, glaubte er, sie auf den falschen Weg geführt zu haben. Er war ein vernünftiger Mann, der sich auf Tatsachen verließ, nicht auf Vermutungen und Gefühle. Was sich hiermit wieder einmal bestätigte. Sie wanderten ziellos durch die Mongolei. Und irgendwo dort draußen lechzten die Erben nach Blutvergießen. Gabriel kochte vor Wut.
Er zog an den Zügeln und grummelte: »Himmelarsch, das ist reine Zeitverschwendung.«
»Seien Sie sich nicht so
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