Die Knochentänzerin
Nase: »Die sind nicht aus irgendwelchem Elfenbein! Nein! Dieses stammt nämlich von den Stoßzähnen eines heiligen Elefanten! Ein fremder Fürst schenkte den Elefanten einst König David. Der ritt darauf unter einem goldenen Baldachin durch Jerusalem, bewehrt mit Tora und seinem sechseckigem Schild. Als der Elefant starb, wurde er heiliggesprochen, und ein Hohepriester ließ aus den Zähnen diese Dreideln schnitzen, damit sie daran erinnerten, dass Jahwe, der einzige Gott, unser aller Schicksal in seinen Händen hält!«
»Das hast du schön erfunden! Erstens«, hob Cosmas einen Finger, »hätte man diesen Elefanten zunächst seligsprechen müssen …«
»Wurde er ja auch, ich wollte euch nur nicht mit Einzelheiten langweilen …«
»Zweitens«, ein weiterer Finger reckte sich in die Höhe, »können Tiere nicht heiliggesprochen werden …«
»Können sie in meinem Glauben doch! Es gab einmal einen Stier …«
»Und drittens würde eine Handvoll Dreideln als Symbol für das Handeln deines Gottes bedeuten, er spiele nach Gutdünken mit dem Schicksal der Menschen wie dieses Gesindel, das Haus und Hof verzockt.«
»Unsinn«, murmelte der Jude kleinlaut, ob Cosmas’ Argumentationsgewalt.
Dieser hakte nach: »Selbst wenn dem so gewesen wäre, was dir aber sowieso kein Mensch glaubt, dann sind meine Würfel trotzdem besser. Hör zu, ich sage dir jetzt, woher die stammen – und dann steckst du dir vor Ehrfurcht deine Elefantendreideln hinten rein.«
Nun war sogar ich neugierig darauf, welchen Blumengarten Cosmas’ Fantasie gleich zum Erblühen bringen würde. Wir mussten nicht lange warten.
Er formierte seine Würfel auf dem Schankhaustisch zu einer akkuraten Linie, ließ seine Hände darüberschweben, und schon legte er los: »Ihr wisst«, so begann er mit wichtiger Miene, »ich bin Reliquienhändler. Dies –«, seine Hände kreisten beschwörend über den Würfeln, »dies sind die wertvollsten Reliquien, die meine Augen je sahen. Niemals, ich wiederhole: niemals werden sie je zum Verkauf stehen – und sollte dies meinen Hungertod bedeuten.« Er pausierte und blickte bedeutungsschwer in die Runde.
»Fahr fort!«, forderte ihn Boleslav der Gepflügte ungeduldig auf.
»Ja.« Cosmas nickte zufrieden, dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern: »Es geht um die Tränen Jesu!«
Wieder warteten wir ungeduldig – inzwischen, ob Cosmas’ Flüsterstimme weit vorgebeugt –, dass dieser fortfuhr.
»Also: Ein jedes Kind weiß, was geschah. Jesus wurde ans Kreuz genagelt. Dort hing er dann, erhielt Essig auf einem Schwamm, wurde von einer römischen Lanze durchbohrt, bis Blut und Wasser flossen. Der Vorhang im Tempel zerriss, der Himmel verdunkelte sich, ein Unwetter kam auf, mit Blitz und Donner und Regensturm. Was dann geschah, ist klar.«
»Was denn?«
»Alle, die noch bei dem Kreuz gewesen waren, flohen vor dem Unwetter. Als Regen und Donner sich verzogen hatten, kam als Erstes eine Mutter mit ihrem toten Kind zurück. In ihrer Trauer wollte sie dem gekreuzigten Jesus das Gestorbene zeigen.«
»Und Jesus erweckte das Kind wieder zum Leben?«, rief William.
»Nein.« Cosmas schüttelte tragisch das Haupt. »Das geschah nicht. Aber etwas anderes. Das kleine Mädchen war gestorben, weil ein römischer Soldat es mit seinem Streitwagen überfahren hatte. Ein eisenummanteltes Rad hatte Haut und Fleisch von einer Rippe der Kleinen gerissen, so dass der Knochen über dem Herzen offen lag. Als nun der gekreuzigte Jesus – seit mehr als einer Stunde tot! – auf die trauernde Mutter und das arme Wesen herabblickte …« Cosmas hielt inne und griff sich vor Rührung über seine Geschichte ans eigene Herz.
»Ja?«, riefen wir im Chor. »Sag schon – was geschah dann?«
»Dann …« Cosmas’ Augen wurden so groß wie Wagenräder. »… dann … rollte etwas Schwarzes die Wange von Gottes Sohn hinab …«
»Was war es? Wohin fiel es?«, riefen wir nun alle durcheinander.
»Es war … eine Träne Jesu. Eine! Noch eine! Und eine dritte! Nacheinander tropften die drei schwarzen Tränen aus den Augen des toten Gottessohnes vom Kreuz herab auf das tote Kind. Sie fielen genau … na? … ratet wohin?« Cosmas gab sich die Antwort flüsternd selbst: »Sie fielen«, sein Zeigefinger senkte sich über die Würfel, »dahin.«
»Was?« Alle schrien durcheinander. »Was soll das heißen? Sie fielen dahin? Auf die Würfel? Willst du behaupten, da lagen Würfel unter dem Kreuz?«
»Nein.« Cosmas lächelte nachsichtig.
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