Die Knochentänzerin
Doch irgendjemand muss die Entscheidung treffen. Einer muss das Urteil fällen.«
Aluichas Mimik hatte sich während Falieros Ausführungen erneut verändert. Zufrieden stellte er fest, dass sie nun anscheinend ehrfürchtig seinen Worten lauschte. Also fuhr er fort: »Es gibt nur wenige Männer, die in der Lage sind, im Angesicht der Macht mutige Entscheidungen zu treffen. Die meisten ziehen den Schwanz ein und kneifen. Es ist eine Gratwanderung. Wie senken sich die Waagschalen – auf der einen Tod, Sterben, bewusst eingesetzte Grausamkeit – auf der anderen der richtige Umgang mit Gnade, Güte und Großzügigkeit?« Faliero holte tief Luft, er redete nun, als gelte es, eine Menschenmenge von seinen Ansichten zu überzeugen. »In Venedig gibt es nicht einmal eine Handvoll Männer, die den Tanz auf der Messerschneide der Macht beherrschen. Es ist gefährlich für ein Volk, wenn es keinen richtigen Führer hat. Die Menschen neigen zu Chaos und haben einen vernichtenden Hang, nur an sich selbst zu denken. Diese Kräfte in einer Gesellschaft sind ungeheuer! Sie können alles erschaffen, aber auch alles zerstören. Also muss es einen Lenker geben, einen, der alles in kontrollierbare Bahnen lenkt. Dies ist nur mit straffen Zügeln möglich, doch man muss wissen, wie man daran zieht. Sind sie zu locker, ergibt das einen unkontrollierten Galopp ins Verderben, reißt man zu fest daran, wird all die Kraft nur gehemmt und vergeudet.«
»Beeindruckend.« Aluicha zupfte eine Pfauenfeder auf ihrem Kleid zurecht. »Und Ihr? Seid Ihr so ein – Lenker? Mutig genug, Macht zu benutzen – mit allen Konsequenzen?«
Statt einer Antwort stellte Faliero eine Gegenfrage: »Und du? Was interessiert dich an der Macht?«
Wie beiläufig, oder unabsichtlich, wanderte Aluichas Federhand ein Stück über Falieros Arm und kam dabei in bedenkliche Nähe seines ausgepolsterten Schritts. Während sie zufrieden spürte, wie sein Atem stockte, erklärte sie: »Mich interessiert nur die Macht an sich. Nichts anderes. Ich verachte Ohnmacht. Nie, nie würde ich je einen Mann heiraten, der keine Macht hat. Einmal werde ich die Dogaressa von Venedig sein. Glaubt mir. Koste es, was es wolle.«
Faliero versank für einen Moment wie ein Ertrinkender im unergründlichen Schwarz ihrer Augen. Dann sah er, wie Gradenigo, mit maskenlosem Gesicht, auf dem sich ein zufriedenes Lächeln abzeichnete, auf sie zukam.
»Tut mir leid,
amico mio
«, verkündete er lautstark und brachte mit seinem dröhnenden Bass das gesamte Fest zum Schweigen. »Leider muss ich dir jetzt meine Tochter entführen. Du kannst sie nicht den ganzen Abend für dich allein beanspruchen. Meine anderen Gäste wollen auch ein Stück von ihrer Schönheit und ihrem Charme.«
26
… und das Blut ergoss sich …
F alieros Vermählung mit der sechzehnjährigen Aluicha Gradenigo war das Ereignis des Jahres. Die meisten Venezianer konnten bezeugen, dass das Fest an Prunk und Aufwand selbst die Festa della Sensa, die alljährliche Vermählung des Dogen mit dem Meer, übertraf. Im Ablauf ähnelten sich beide Feste. Die gesamte Seeflotte der Serenissima putzte sich für ihren
commandante
schon Wochen vorher heraus, nie sah man im Arsenal, der größten Schiffswerft des Abendlandes, mehr Betriebsamkeit als in jenen Tagen.
Seit Wochen machten Mutmaßungen über die Mitgift die Runde. Da beide Parteien darüber jedoch Stillschweigen bewahrten, kochte die Gerüchteküche bald über. Von ungeheuren Geldsummen, die den Besitzer wechselten, war die Rede, zumal die Übereignung von Ländereien an Faliero nicht unbemerkt geblieben wäre. Ein Gerücht jedoch hielt sich am hartnäckigsten: Gradenigo habe, so hieß es, Faliero etwas zugesichert, das im Augenblick noch gar nicht zur Verfügung stand, denn der, der es hatte, war quicklebendig. Die Rede war vom Dogenamt. Doch dieses hatte Pietro Dandolo inne.
Am Festtag selbst hatte sich Venedig geschmückt wie zum Empfang eines Kaisers. Überall hingen Girlanden, Wimpel und Fahnen, die Plätze waren mit Blüten bestreut, selbst der in der Morgendämmerung einsetzende Nieselregen konnte die Menschen nicht davon abhalten, ausgelassen durch die Straßen zu tanzen und das Brautpaar hochleben zu lassen. Händler, Dirnen und Diebe machten das Geschäft ihres Lebens, und als nach der Trauung durch den Patriarchen im Markusdom die Schiffe auf die Lagune hinausfuhren, brandete Jubel auf wie Donnerhall.
Viele behaupteten, noch nie habe es in Venedig – und sicher im
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