Die Königin von Theben
aus dem Wissen des besiegten Volkes Gewinn ziehen wollte, um seine Eroberungen noch weiter ausdehnen zu können. Die Ägypter aber, zu sehr mit ihrer großen Suche nach Weisheit und sozialer Harmonie beschäftigt, hatten etwas Wesentliches vergessen: dass nur Stärke und Gewalt zum Sieg führen.
Im Vorhof des Haupttempels von Heliopolis stand der Hohepriester allein unter der Sonne. Sein Kopf war rasiert, und als Gewand trug er ein mit Goldsternen verziertes Pantherfell. In der rechten Hand das Zepter seiner höchsten Weihe.
Apophis stieg aus seinem Wagen.
»Was wissen wir von diesem Unverschämten?«, fragte er Khamudi.
»Er ist ein gelehrter Mann, der dem alten Glauben anhängt, und wird als Hüter der Tradition angesehen.«
»Er soll sich vor mir verbeugen!«
Khamudi übermittelte den Befehl, doch der alte Priester blieb aufrecht wie ein Standbild des Alten Reichs.
Nur mühsam seine Wut bezwingend, trat Apophis näher. »Weißt du nicht, welche Strafe dich erwartet?«
»Ich verbeuge mich nur vor einem Pharao«, erwiderte der Hohepriester.
»Ich bin ein Pharao! Und ich bin gekommen, um meine Thronnamen in den Baum des Wissens einzuritzen.«
»Wenn Ihr das seid, was Ihr zu sein vorgebt, so ist eben das Eure Pflicht. Folgt mir.«
»Ich und meine Leute werden Euch begleiten«, schaltete Khamudi sich ein.
»Das kommt nicht in Frage«, widersprach der Hohepriester. »Nur der Pharao darf sich dem heiligen Baum nähern.«
»Wie kannst du es wagen …«
»Lass ihn, Khamudi! Ich, Apophis, werde tun, was hier Sitte ist.«
»Es ist zu gefährlich, Herr!«
»Wenn irgendjemand mir auch nur ein Haar krümmt, dann weiß der Hohepriester von Heliopolis, dass alle Tempel vernichtet und alle Priester hingerichtet werden.«
Der alte Mann neigte den Kopf.
»Ich folge dir, Hohepriester.«
Apophis empfand nicht das Geringste, als er das großartige Heiligtum betrat, in dem alle Pharaonen des Alten und des Mittleren Reichs zu Gast gewesen waren.
Nur einen Moment lang ließ die andächtige Stille dieser Räume, wo noch immer Maat, die Göttin der Rechtschaffenheit, verehrt wurde, eine leichte Unruhe in ihm aufsteigen; um sie nicht noch stärker werden zu lassen, vermied der König der Hyksos den Blick auf die Reliefs und die Hieroglyphenkolonnen, die auch hier, weit entfernt von menschlicher Präsenz, die göttliche Schöpferkraft bekräftigten und das Ritual feierten.
Der Hohepriester betrat einen riesigen offenen Hof, in dessen Mitte ein dichtbelaubter Lorbeerbaum stand.
»Dieser Baum wurde zu Beginn der Regentschaft des Pharaos Djoser, des Erbauers der Stufenpyramide, gepflanzt«, erklärte der Hohepriester, »seine Langlebigkeit ist ein Triumph über die Zeit. Auf den Blättern eines seiner Hauptäste sind die Namen der Pharaonen eingeritzt, deren Herrschaft von den Göttern beglaubigt wurde.«
»Genug geschwätzt! Gib mir etwas, womit ich meinen eigenen Namen einschreiben kann.«
»Es handelt sich um eine Zeremonie mit genau vorgeschriebenen Regeln: Ihr müsst die alte Perücke tragen, auf Eurer Stirn muss die goldene Uräusschlange ihr Haupt erheben, Ihr müsst einen kurzen Schurz tragen und Euch niederwerfen …«
»Hör auf mit diesem dummen Zeug, Alter! Der König der Hyksos wird sich diesen überholten Ritualen nicht unterwerfen. Gib mir etwas zu schreiben, das genügt.«
»Damit der Schaft der Millionen Jahre weiterwächst, müsst Ihr das Schreibrohr des Gottes Thoth benutzen. Wollt Ihr das tun?«
Apophis zuckte die Achsel.
Der alte Priester entfernte sich.
»Wohin gehst du?«
»Ich hole dieses Schreibrohr aus dem Tempelschatz.«
»Versuch bloß nicht, mich zu hintergehen, sonst …«
Apophis bereute schon, dass er jede Schutzmaßnahme abgelehnt hatte. War dies nicht die beste Gelegenheit für einen Hinterhalt? Doch die Diener der alten Religion lehnten das Verbrechen ab. Sie lebten in ihrem Wolkenkuckucksheim und träumten immer noch von der alten Göttin Maat!
Der alte Mann kam mit einer Truhe aus Akazienholz zurück.
Darin befand sich das Handwerkszeug des Schreibers: eine Palette mit Löchern für die rote und die schwarze Tusche, Schälchen mit Wasser und ein Schreibrohr.
»Zerreibt die schwarze Tuschenpaste mit ein wenig Wasser, taucht das Schreibrohr hinein und schreibt!«
»Mit diesen niedrigen Pflichten könnt Ihr Euch selbst belustigen!«
»Ich kann das Schreibrohr für Euch vorbereiten, doch Ihr selbst müsst es führen.«
Apophis nahm das Schreibrohr und versuchte, auf ein
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