Die Königsmacherin
»Karl! Karl!« Immer wieder rief sie seinen Namen. Auf einmal veränderten sich die Spuren. Es sah aus, als habe das Pferd gescheut und den Jungen abgeworfen. Mit klopfendem Herzen zügelte Bertrada ihren Fuchs und stieg ab. Während sie noch rätselte, was die vielen Abdrücke im Schnee zu bedeuten hatten, und sich darüber ärgerte, keinen Fährtensucher mitgenommen zu haben, drang ein leises Winseln an ihr Ohr. Hastig folgte sie dem Geräusch. Unter einem kahlen Holunderbusch fand sie ihren Sohn.
»Mutter!« rief er verzweifelt und streckte ihr die Arme entgegen. Sie sprach ein stummes Gebet und wollte den Jungen aufheben. Doch er schrie vor Schmerz auf, als sie ihn berührte, und da erst sah sie, daß sein linkes Bein in einem seltsamen Winkel vom Körper abstand. Das Gesicht des Jungen war tränennaß, und ein winziger Eiszapfen hing ihm von der Nase.
Sie warf sich neben Karl in den Schnee und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
»Pegasus ist weg! Pegasus ist weg!« sagte der Junge immer wieder. Bertrada selbst hatte dem Tier aus awarischen Landen diesen Namen gegeben. Er sollte ihrem Sohn gewissermaßen Flügel verleihen. Sie warf einen Blick in die Richtung, in die Karl geschaut hatte, zog dann ihren Umhang aus und wickelte ihren Sohn vorsichtig darin ein. Behutsam folgte sie den frischen Spuren, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Mit einemmal blieb sie wie angewurzelt stehen. Nicht einmal hundert Schritte von Karl entfernt hatten sich fünf Wölfe über das Pferd hergemacht. Die wilden Tiere waren mit bluttriefenden Schnauzen so damit beschäftigt, ihren Hunger zu stillen, daß sie sich nicht um die Menschen in ihrer Nähe scherten.
Bertrada machte auf der Stelle kehrt, befahl ihrem Sohn flüsternd, keinen Laut von sich zu geben, sonst würde sie ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Sie hob ihn hoch, legte ihn über den Fuchs, schwang sich selbst in den Sattel und ritt zurück zur Burg.
Der Aufbruch nach Prüm wurde auf den nächsten Tag verschoben. Am Abend nahm sie ihren ältesten Sohn ins Gebet.
»Warum hast du Karlmann in den Schweinetrog gesteckt?« fragte sie wütend.
»Mir tut alles weh!« jammerte Karl. Sein Bein war inzwischen geschient worden, und er lag auf Seidenkissen gebettet im Gemach seiner Mutter.
»Das geschieht dir ganz recht!« fuhr sie ihn an. »Weißt du, daß dein Bruder tot sein könnte?«
Nein, dachte sie betroffen, es kann doch nicht sein, daß sich in seiner Miene Enttäuschung spiegelt! Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, macht meine Söhne zu Brüdern, die sich lieben und einander beistehen, laßt nicht zu, daß sie einander Übles wünschen und Schmerzen bereiten! Laßt die Geschichte sich nicht wiederholen!
»Und mich hätten beinahe die Wölfe gefressen!« erklärte Karl stolz. Dann begann er wieder zu weinen. »Pegasus ist weg! Pegasus ist weg!«
»Du kommst nicht mit nach Prüm«, erklärte Bertrada hart. »Ich werde dich jetzt ganz lange allein lassen, dann kannst du darüber nachdenken, was du deinem Bruder angetan hast!«
»König David war besser als seine Brüder«, schluchzte Karl. »Mutter! Erzähl mir wieder von König David!«
Ich hätte ihn nicht schon seit frühester Kindheit mit König David vergleichen dürfen! Er ist doch noch viel zu klein für die Geschichten des Augustinus! Was versteht ein Fünfjähriger schon vom Gottesstaat!
»Nichts werde ich dir erzählen! Du sollst nachdenken!«
Sie erhob sich und verließ tränenblind das Zimmer. Karls Schreie nach seiner Mutter hallten die halbe Nacht durch die Burg, und auch am nächsten Morgen erscholl das Gejammer wieder aus dem Gemach, als sie mit ihrem Gefolge und dem kleinen Sohn Mürlenbach verließ. Sie hatte nicht wieder nach ihrem Ältesten gesehen.
Wie immer ließ sie an jener Stelle halten, an der ihr erstes Kind zur Welt gekommen und gestorben war. Sie stieg mit Karlmann ab, der vor ihr auf dem Pferd gesessen hatte, und erklärte ihm: »Hier ist dein ältester Bruder geboren worden.«
Im Gegensatz zu Karl hatte ihr jüngster Sohn sehr frühzeitig den Mund zum Sprechen aufgemacht, allerdings waren sie und seine Amme die einzigen, die seinem Gebrabbel einen Sinn abzuringen vermochten.
»Wo er jetzt ist?« übersetzte sie seine Laute. Sie deutete nach oben. »Schau dort, wo die vielen Wolken sind, dort im Himmel, da wohnt er jetzt und paßt auf dich auf.«
Karlmann schnatterte los. Sie hielt seine kleine Hand in ihrer und schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Sohn, er wird nie
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