Die Kommissarin und der Tote im Fjord
nach Hause zu sich oder zu jemand anderem?«
»Nein. Aber ich habe angenommen, dass er zu sich nach Hause wollte.«
»Warum haben Sie das angenommen?«
Vestgård wurde wieder ärgerlich. »Weil es mitten in der Woche war? Keine Ahnung. Hören Sie mal: Ich habe das Lokal vor 23 Uhr verlassen. Ich habe eine Quittung für das Taxi, die ich Ihnen zeigen kann. Mein Mann und meine zwei Töchter waren noch wach und können bestätigen, wann ich nach Hause gekommen bin.«
Bevor Lena protestieren konnte, hatte sie nach dem Telefonhörer gegriffen und wählte eine Nummer:
»Vestgård an Frikk Råholt … Frikk? Ich bin’s. Ich habe wieder Besuch von dieser Polizistin. Ja, ich habe erzählt, dass ich Mittwochabend mit Sveinung unterwegs war. Jetzt will sie wissen, wann ich nach Hause gekommen bin. Kannst du ihr das sagen?«
Vestgård reichte Lena den Hörer. »Fragen Sie Frikk, meinen Mann.«
Lena gefiel die Situation gar nicht, aber sie gehorchte.
»Hier ist Lena Stigersand …«
Mehr konnte sie nicht sagen, bevor Frikk Råholts Stimme sie unterbrach: »Ihre Vorgesetzten haben mir versichert, dass alle Anfragen an meine Frau oder andere Mitglieder unserer Familie diskret und über gesicherte Kanäle erfolgen würden. Im Parlament eine Aussage von Aud Helen aufzunehmen, kann manwohl kaum diskret nennen. Deshalb sehe ich mich gezwungen, diese Situation mit Ihrem Vorgesetzten zu besprechen, was Sie sicherlich verstehen werden. Der Ordnung halber bitte ich Sie, sich Folgendes zu notieren: Meine Frau ist am Mittwoch, dem 9. Dezember, eine halbe Stunde vor Mitternacht mit dem Taxi nach Hause gekommen. Wenn Sie auf meine Unterschrift unter dieser Aussage bestehen, bitte ich Sie, ein entsprechendes Dokument an das Justizministerium zu faxen – nachdem Sie vorher mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen haben.«
Das Gespräch wurde beendet, und das Freizeichen dröhnte an Lenas Ohr.
Sie sah Aud Helen Vestgård an, die ihr den Telefonhörer abnahm und wieder an seinen Platz legte.
3
Außer Lena saß nur noch eine weitere Patientin im Wartezimmer, eine blonde Frau Mitte zwanzig. Die Frau las in einem dicken Buch und reagierte nicht, als Lena hereinkam und sich setzte. Lena betrachtete sie verstohlen. Formvollendete Figur und enge Jeans, die in hohen schwarzen Stiefeln mit Absatz verschwanden.
Auf einem flachen Tisch lagen ein Stapel alter Wochenzeitschriften und einzelne Gesundheitsmagazine mit farbenfrohen Titelblättern. An den Wänden hingen Informationsplakate über die Schädlichkeit von Rauchen und übermäßigem Alkoholkonsum.
Lena beugte sich vor und griff nach einer Wochenzeitschrift. Die Frau sah von ihrem Buch auf. Sie nickten einander kurz höflich zu.
Lena blätterte. Die Zeitschrift war mehrere Monate alt, unddie Fotos stammten von einer Kinopremiere, wo junge, schöne Menschen auf einem roten Teppich posierten. Die Kleider wurden kommentiert und vom »Experten« des Blattes mit Würfelpunkten bewertet. Lena war froh, dass dieser »Experte« nicht ihre Garderobe zu bewerten hatte. Außerdem bedauerte sie, keinen anderen Lesestoff mitgenommen zu haben.
Sie schielte wieder zu der anderen Frau hinüber. War neugierig, was diese wohl las. Es war ein dickes Buch. Ein Roman. Was für Romane las eine junge Frau mit Stundenglasfigur und Solariumhaut? Wahrscheinlich einen Arztroman, dachte Lena, jedenfalls nichts, was viele Jahre in den Bücherregalen überleben würde – wie die Erzählungen von Jane Austen.
Die Blondine mit dem Buch hob den Kopf und sah sie an.
Lena vertiefte sich wieder in die unkomplizierten Liebesaffären der TV-Stars. Es war ihr unangenehm, die Fotos zu betrachten. Sie legte das Blatt weg, streckte die Beine aus und lehnte sich zurück.
Die andere Frau legte ein Lesezeichen in ihr Buch und schlug es zu.
Der Titel war Moby Dick.
Lena musste über sich selbst lächeln.
Endlich ging die Tür auf. Eine füllige Frau in grünem Arztkittel stand vor ihnen. Sie sah erst die Blondine und dann Lena an und sagte: »Stigersand?«
Lena stand auf und folgte ihr.
Eine Stunde später stieg sie in ihr Auto. Saß da und schaute durch die Windschutzscheibe, nachdenklich und verwirrt. Zum ersten Mal war sie in einer Arztpraxis gewesen, ohne dass ihr egal war, was passierte. Gleichzeitig gelang es ihr nicht, die Situation wirklich an sich heranzulassen. Sie wollte nicht daran denken. Trotzdem öffnete sie ihre Umhängetasche. Darin lag ein Briefumschlag, den sie ihr mitgegeben hatten. Sie wog denUmschlag in
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