Die Komplizin - Roman
»Danach entscheiden wir, was zu tun ist.«
Sally erzählte also erneut ihre Version von Haydens Auftauchen und Verschwinden und erklärte abschließend mit Nachdruck, sie sei sicher, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sei.
»Verstehen Sie denn nicht?«, beschwor sie die Beamtin, sah dabei aber mich an, als erwartete sie von mir eine Bestätigung. »Erst probt er die ganze Zeit für ein bevorstehendes Konzert, und dann ist er plötzlich spurlos verschwunden, und kein Mensch weiß, wo er abgeblieben ist.«
»Haben Sie irgendwelche Versuche unternommen, ihn zu finden?«
»Natürlich. Meine Freundin Bonnie hier ist mit ein paar anderen Leuten in seine Wohnung gegangen, um nachzusehen, was mit ihm los ist.«
»Was haben Sie herausgefunden?«, wandte sich die Beamtin an mich.
Plötzlich kam ich mir vor wie eine Schauspielerin, die gerade jemand auf die Bühne geschubst hat. Ich kannte nicht nur meinen Text nicht richtig, sondern hatte noch nicht mal entschieden, welche Rolle ich eigentlich spielen wollte. Bestimmt war es wichtig, dass ich mich mit Sally solidarisch zeigte und
sie entsprechend unterstützte. Noch viel wichtiger aber war, dass ich es nicht übertrieb: Auf keinen Fall durfte ich meine Rolle so überzeugend spielen, dass sich die Beamtin dadurch genötigt fühlte, eine große Suche nach Hayden einzuleiten. Leider hatte ich keine Zeit gehabt, mir das alles vorher in Ruhe zu überlegen.
»Er ist zu einer Probe nicht erschienen, und wir konnten ihn auch nicht erreichen, deswegen sind wir in seine Wohnung, um nachzusehen, ob er dort irgendetwas zurückgelassen hat, das vielleicht Aufschluss darüber gibt, wo er abgeblieben ist.« Mir kam ein Gedanke. »Wenn ich seine Wohnung sage, meine ich damit nicht, dass sie ihm gehört. Er hatte kein … er ist nicht der Eigentümer«, korrigierte ich mich, »und auch nicht der Mieter. Eine Freundin von mir ist zurzeit auf Reisen, deswegen hat er vorübergehend dort gewohnt.«
»Was haben Sie in der Wohnung gefunden?«
»Eigentlich nichts. Keinen Pass, kein Handy, keine Brieftasche. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass er alles mitgenommen hat.«
»Bei der Gelegenheit haben sie aber entdeckt, dass seine Gitarre kaputt ist«, mischte Sally sich ein. »Finden Sie das nicht seltsam? Er ist Profimusiker. Seine einzige Gitarre ist zertrümmert und er selbst spurlos verschwunden.«
»Es ist nicht wirklich seine einzige Gitarre«, stellte ich richtig.
»Aber seine liebste.«
»Haben Sie sich mit seinem Arbeitgeber in Verbindung gesetzt?« , fragte Becky.
Ich gab ihr keine Antwort, sondern überließ es Sally, ihre eigenen Argumente zu untergraben.
»Er hat keinen Arbeitgeber«, erklärte sie. »Er ist Musiker.«
Becky sah sie verwirrt an.
»Was für eine Art Musiker? Spielt er regelmäßig mit einer Gruppe oder auf einer bestimmten Bühne?«
»Das weiß ich nicht so genau«, antwortete Sally, »ich glaube nicht.«
»Wie lange wohnt er denn schon … na ja, wo er zurzeit eben wohnt?«
»Ein paar Wochen, würde ich sagen.«
»Und davor?«
Sally wurde vor Verlegenheit rot.
»Keine Ahnung. Weißt du das, Bonnie?«
»Nein«, antwortete ich. »Bevor er in Lizas Wohnung gezogen ist, hat er bei irgendwelchen Leuten auf dem Boden übernachtet.«
»Auf dem Boden?«
»Oder auf dem Sofa. Davor hat er außerhalb von London gespielt, glaube ich. Wo genau, weiß ich nicht.«
»Vielleicht ist er dorthin zurück«, mutmaßte Becky.
»Nein, bestimmt nicht«, widersprach Sally, »da bin ich mir ganz sicher. Er wäre nicht einfach gegangen. Das hätte er mir gesagt. Hören Sie, ich verstehe das alles nicht. Wenn jemand auf dieses Revier kommt und eine Person vermisst meldet, dann ist es doch Ihre Aufgabe, nach der betreffenden Person zu suchen. So wie im Fernsehen, wenn Scharen von Polizisten einen Wald durchkämmen oder einen See absuchen.«
Sallys letzte Worte versetzten mir einen Stich, als hätte mich jemand tief in meinem Inneren mit etwas Spitzem gepiekst. Becky antwortete in sehr sanftem Ton, als müsste sie ein hysterisches Kind beruhigen.
»Der Begriff ›vermisst‹ kann recht unterschiedliche Dinge bezeichnen. Wenn ein Kleinkind eine halbe Stunde abgängig ist, handelt es sich bereits um einen Notfall. Bei einem Erwachsenen ist das ein bisschen schwieriger. Erwachsene haben das Recht, einfach zu verschwinden, wenn ihnen danach ist. Das kann für die Menschen, die sie lieben, sehr schmerzhaft sein. Wir hören oft schreckliche Geschichten von Ehemännern,
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