Die Konkubine
Kommandobereiche, Unterkünfte für Soldaten, alles hatte man aus dem Berg gehauen und gesprengt. Die unterirdische Festung der Deutschen hatte eine eigene Wasserversorgung, Heizung, Lüftung, elektrischen Strom, der von einem Generator erzeugt wurde, alles was vonnöten war, um lange dort auszuharren. Die riesige, tonnenschwere Drehkuppel aus Kruppstahl war Stück für Stück aus Deutschland übers Meer transportiert worden. Die Feinde konnten sie vom Meer aus nicht ausmachen. Doch von dort oben konnte man ohne Schwierigkeiten die ganze Bucht überblicken. Die große Kanone hatte eine Reichweite von rund vierzehn Kilometern.
Der Weg zur Festung hinauf begann direkt im Norden hinter den Bismarck-Kasernen, führte vorbei an Schießscharten und Geheimgängen, die bis hinunter in die Stadt reichten. Er hatte von sieben solchen geheimen Ausgängen gehört. Manche hielten diese unterirdische Festung von Tsingtau für eine der größten aktiven Festungsanlagen weltweit – und für uneinnehmbar.
Kapitel 14
MULAN BETRACHTETE IHREN kleinen Sohn, der in seinem roten Festtagskleidchen friedlich in ihren Armen schlief. Er hatte in diesem Jahr von den Vorbereitungen fürs Neujahrsfest noch nicht viel mitbekommen. Doch im nächsten würde er auf seinen kleinen Beinchen schon hinterherwackeln. Es war viel zu tun zur Vorbereitung des Neujahrsfestes, das den 76. Zyklus des chinesischen Mondkalenders einläutete. Nach westlicher Rechnung begann es in dieser Nacht, 24 Uhr, am 16. Februar 1904.
Die Tafeln der Ahnen standen auf dem kleinen Altar in ihrem Zimmer. Neujahr war auch ihr Tag, ihr Geburtstag ebenso wie der eines jeden Chinesen. Das verräucherte Bild des Herdgottes würde bald verschwinden. Der Mund des Beschützers der Küche war mit einer süßen Paste verschmiert. So konnte er nur Gutes berichten, wenn er sich vor Neujahr in den Himmel begab und über das Treiben der Familie berichtete. In einigen Tagen würden sie ein neues Bild aufhängen und damit die Rückkehr des Herdgottes feiern.
Überall im Haus hatten die Dienstboten gefegt. Jedes Mitglied im Haushalt von Liu Laoye hatte sich von Kopf bis Fuß gewaschen und saubere Gewänder angezogen. Die Männer hatten sich außerdem die vordere Schädeldecke sauber rasiert und den Zopf ordentlich geflochten.
Mulan war glücklich, dass ihr Sohn immer stärker wurde. Es war ein gutes Zeichen, dass ihr Tongren mit roten Bäckchen ins neue Jahr ging. Sie dankte dem Himmel dafür. Sie wünschte sich, Meili könnte das Kind jetzt sehen. Die Freundin fehlte ihr unendlich. Es war wundervoll gewesen, sie hier zu haben. Doch sie hatte zurück nach Peking reisen müssen.
Noch etwas vermisste sie mehr, als sie gedacht hatte: das Wiedersehen mit dem Deutschen. Konrad, Kangle. Immer wieder hatte sie das Gefühl, dass er nahe war, glaubte, ihn gleich um die Ecke biegen zu sehen. Es war besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Doch das Sehnen ließ sich nicht einfach beiseiteschieben. Da war es wieder, dieses Ziehen im Herzen, die bange Frage, wie es ihm wohl ging – Empfindungen, die nicht sein durften. Dennoch wünschte sie sich, sie könnte das Neue Jahr mit ihm feiern.
Sie bekam erneut ein schlechtes Gewissen, als sie an ihn dachte. Sie hatte ihn verraten, dazu beigetragen, dass er seine Ehre verlor. Etwas Schlimmeres konnte man einem Menschen nicht antun. Sie sagte sich immer wieder, dass sie ihm damit wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Es nutzte nichts.
Der Säugling in ihrem Arm regte sich leise, A-Ting trat ins Zimmer. Mulan lächelte ihr zu und reichte ihr das Baby, das in diesem Moment leise schmatzte. Sie schnüffelte noch kurz an seiner Halsbeuge. Er roch himmlisch. «Ist er nicht schön?»
Die alte Frau strahlte. «Oh ja. Und wie sehr er Song Gan gleicht. Es ist, als ob dein Bruder noch einmal auf die Welt gekommen wäre, Herrin.»
Mulan hielt die Luft an, und A-Ting schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Es war besser, so etwas nicht laut zu sagen. Die bösen Kräfte könnten neidisch werden und dem Jungen schaden.
Die Dämmerung senkte sich herab, der letzte Tag des alten Jahres ging dem Ende zu. Bald würde das Jahr des Holzdrachen anbrechen. Mulan sah nach draußen. Die ersten Nachbarn kamen mit Laternen aus dem Haus.
Wie anders war es doch hier als in ihrer Heimat. Früher waren alle Bewohner gemeinsam vor ihr Dorf gegangen. Dort hatten sie sich in Richtung der Gräber ihrer Vorfahren gewandt, ihre Namen gerufen und sie eingeladen, nach Hause zu
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