Die Konkubine
nicht bleiben, Herrin, ohne Wang Zhen und seine Familie in Gefahr zu bringen. Keine Angst, er wird uns nicht zu Liu zurückbringen.» Sie blickte um Bestätigung heischend zu Tang und sah sich wieder einmal bestätigt in dem, was Mulan nicht begriff oder begreifen wollte. Niemals würde dieser Mann ihre Herrin ausliefern, auch wenn er selbst dadurch in Gefahr geriet.
Tang hatte sich bei Mulans Eintreten erhoben. «Yu Ting hat recht, ich würde Sie niemals verraten, Frau Song. Auch nicht an meinen Vater. Ich habe einen sicheren Ort für Sie und Ihren kleinen Sohn gefunden. – Mulan, weißt du denn nicht -? Du kannst mir vertrauen. Du und ich, wir sind Menschen mit derselben Überzeugung und einem gemeinsamen Ziel. Glaub mir, du bist bei mir in Sicherheit.»
Früher hätte Mulan die Augen niedergeschlagen. Sie wäre bei diesem überraschenden Gefühlsausbruch vielleicht leise errötet, hätte dem Mann höchstens einen kurzen verführerischen Blick durch die Augenwimpern hindurch zugeworfen. Das war die Art, wie Frauen seit jeher von den Männern bekamen, was sie wollten. Doch diese Mulan gab es nicht mehr. Es war zu viel geschehen. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das sich widerstandslos in Dinge fügte, die andere für sie bestimmten. Ihre Füße waren gebunden, die Knochen gebrochen. Doch ihr Wille war es nicht. Sie schaute den jungen Herrn Tang offen an, suchte nach Hinterlist oder Tücke in seinen Zügen, entschlossen, lieber in dieser Sekunde zu sterben, als sich Liu ausliefern zu lassen. Doch sie fand nichts dergleichen darin. Dafür etwas anderes. Ein tiefes Gefühl, das sie bei ihm niemals vermutet hätte. Er war eben der jüngere Herr Tang gewesen, der Sohn des Geschäftspartners von Liu. Sie würde diese Zuneigung niemals erwidern können. In ihrem Herzen war nur für einen Mann Raum. Und diese Kammer hatte Kangle für immer für sich besetzt.
Sie erkannte, dass Tang das wusste. Dass er sie dennoch liebte, dass er geduldig warten würde. Dass sie bei ihm sicher war. Und dass es stimmte: Sie hatten einen gemeinsamen Kampf auszufechten. Niemals, niemals wieder, sollte eine chinesische Frau erleben müssen, was ihr geschehen war. Niemals, niemals wieder sollte eine Frau in diesem Land weniger wert sein müssen als ein Mann, sich beugen müssen, kriechen, ihren Körper anbieten, um geschützt zu sein. Es lohnte sich, für ein solches China zu kämpfen, in dem Frauen auch als Menschen betrachtet wurden, in dem Yin und Yang gemeinsam die Veränderung herbeiführten. Sie hatte ihre Bestimmung gefunden. Sie war nicht mehr «diese Frau», «diese Elende», «diese Unterwürfige».
«Gut, junger Herr Tang. Ich werde mit dir gehen.»
Tang brachte Mulan nach Qing Longzi, einer herrlichen Tempelanlage, nicht weit von Qingdao. «Am sichersten ist es immer in der Nähe des Feindes. Dort werdet Ihr nicht vermutet», versicherte er ihr. Er erwähnte nicht, dass ihn dies eine gehörige Summe kostete. Es war nicht leicht gewesen, die Mönche zu überzeugen. Sie waren äußerst geschäftstüchtig. Um sicher zu gehen, hatte er ihnen noch einmal eine hohe Belohnung in Aussicht gestellt, wenn er die Frau, den Sohn und die Amah abholte – gesund und unverletzt. Auch die Diener und Kulis hatte er großzügig bestochen. Sie würden schweigen. Sie wussten, mit dem jungen Herrn Tang war nicht zu spaßen. Er spielte nur den Harmlosen. Viele sympathisierten außerdem mit seinen politischen Ansichten.
Tang Huimin hatte längst seine eigenen geheimen Geldquellen erschlossen. Sie brauchten die Mittel für die Revolution. Er hatte gut hingesehen und von den Älteren gelernt. Nicht mehr lange, und er würde ein eigenes Haus gründen und Mulan zu sich holen können. Dann, wenn seine Stellung gefestigt war, wenn Yuan Shikai ihm nichts mehr anhaben konnte und auch keine Gefahr mehr bestand, dem Vater Schande zu bereiten und Liu Guangsan zu kränken. Diese Zeit würde kommen. Bis dahin war Mulan im Kloster sicher. Die Mönche würden dort außerdem nur einen einzigen Mann zu ihr lassen. Ihn selbst.
Mulan war in gewisser Weise erleichtert über diese Entwicklung. Nun würde Ge Kangle niemals erfahren, dass sie sich die Rufmordkampagne gegen ihn ausgedacht hatte. Sie würde sich in Grund und Boden schämen, falls er jemals davon hörte. Es war besser, sie sahen sich nicht mehr. Auch wenn es weh tat. Die Sehnsucht war so groß. Manchmal glaubte sie, diesen Schmerz nicht ertragen zu können. Doch ein Mensch hielt viel aus. Sie
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