Die Konkubine
deine Eltern und dein Bruder weiter. Und das Kind, das du in dir trägst, ist auch ein Stück von ihnen.»
Mulan umarmte die alte Frau. Die Jahre hatten Yu Ting schrumpfen lassen. Sie war inzwischen schon fast einen halben Kopf größer als ihre Amah.
Die beiden Frauen hielten sich eine Weile fest. «Ich werde zur Göttin in den Tempel gehen und ihr ein Geschenk bringen», erklärte Mulan. Die Amah lachte erleichtert. «Tu das, Liu Laoye hat sicherlich nichts dagegen einzuwenden, aber jetzt ruh dich erst aus.»
Mulan nickte. Sie ging zu dem kleinen Tischchen, auf dem ihre ehrwürdige Zither, die Guzheng in ihrem Kasten lag. Liu Guangsan hatte ihr dieses Instrument geschenkt, als sie in sein Haus gekommen war. Es war alt, gebaut aus dem Holz einer Platane und mit feinsten Intarsien aus Elfenbein verziert. Generationen von Frauen hatten diese Saiten zur Freude ihrer Gebieter zum Klingen gebracht. Doch die beweglichen Stege, die die Tonhöhe bestimmten, waren noch immer ohne Sprünge. Sie nahm die Fingerplektra aus einer kleinen Teakholzschale, streifte sie über und zupfte die Saiten. Ihre Gedanken flossen mit der Musik. Die Töne erzählten von der Mei, der kleinen Pflaumenblüte, die im Winter ihre Blätter entfaltet und so zum Symbol der Hoffnung wird. Ihr Herz begann ruhiger zu schlagen. Auch dieses Lied hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Leise sang sie den Text. Er stammte aus dem Shijing, dem uralten Buch der Lieder.
Aija, ihre Mutter! Wieder flogen ihre Gedanken zurück durch die Zeit. Wie liebevoll die Augen auf ihre Tochter schauten, wie herrlich der rote Mund blühte und ihre Schönheit vollkommen machte. Wie geduldig sie war, ohne jemals ein Zeichen der Verärgerung zu zeigen. Dennoch hatten ihre Worte immer die gewünschte Wirkung. Keiner der Dienstboten wagte es, ungehorsam zu sein, wenn sie mit ihrer sanften Stimme die Anordnungen gab. Keine Frau war ihr jemals gleichgekommen in ihrer Grazie und Distinguiertheit. Sie würde niemals so vollkommen sein wie ihre Mutter.
Mulan legte die Guzheng beiseite. Danach fiel sie zum ersten Mal seit Tagen wieder in einen ruhigen Schlaf. Als sie aufwachte, stand eine Schale mit Tee an ihrem Bett. Sie hatte nicht bemerkt, wie sie hereingebracht worden war. Sie aß mit Appetit das stärkende Mahl aus Kohl und Huhn und biss in eine dieser vorzüglichen weißen Birnen, die so lange hart und frisch schmeckten, selbst wenn sie schon geraume Zeit vom Baum geerntet worden waren. Die Provinz Shandong war berühmt dafür. Danach schlief sie wieder ein.
Sie hörte nicht, wie sich die Türe erneut öffnete, erwachte jedoch von einer weichen Frauenhand, die sie streichelte. «Mutter», murmelte sie schlaftrunken.
«Ja, es waren glanzvolle Zeiten damals», erwiderte eine melodiöse Frauenstimme. Mulan schlug die Augen auf. Nein, es war kein Traum. Chen Meili war gekommen! Meili, die Schwurschwester ihrer Kindertage. Gemeinsam hatten sie die Schmerzen in den gebundenen Füßen ertragen, gemeinsam von einer großartigen Zukunft geträumt, sich den künftigen Ehemann in den glühendsten Farben ausgemalt. Natürlich war er immer schön und ein Held gewesen. Sie hatten Lieder gesungen, die Texte des Meisters Kong Fuzi gelesen und nachts gemeinsam im Bett gelegen. Chen Meili, die Gefährtin ihrer schönsten Tage. Und ihrer schlimmsten. Die Frau, der sie ihr Leben verdankte.
Mit einem Jubelschrei umarmte sie die Freundin. «Jiejie, große Schwester, es tut so gut, dich zu sehen! Wieso bist du hier, wieso hast du mir nicht geschrieben?»
«Liu Guangsan hat mich geholt, als er sah, wie krank du warst, Meimei», antwortete Meili. «Da bin ich sofort aufgebrochen.»
«Wie geht es dir? Sag mir, was hast du gemacht in der Zwischenzeit? Ach, es ist so schön, dich zu sehen. Aber ich muss dich wirklich schelten. So lange kein Wort, keine Zeile, wie es dir geht und wo du bist.»
«Du weißt doch, ich bin Mitglied des Frauenballetts Beijing geworden. Ich habe dir doch schon vor fast drei Jahren erzählt, dass Yuan Shikai dafür gesorgt hat, dass das Ballett mich aufnahm, obwohl ich eigentlich schon zu alt war. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Es geht mir gut, in gewisser Weise besser als jemals zuvor. Ich trete jetzt schon einige Jahre auf und habe mir einen gewissen Ruf erworben. Wir Tänzerinnen müssen hart an uns arbeiten, die Disziplin ist streng. Doch die Tanzausbildung, die ich schon als Kind bekam, damit ich lerne, mich graziöser zu bewegen, hat mir geholfen. Trotzdem
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