Die Korallentaucherin
»Im Zuge der Weiterentwicklung der Technologie mit Schallgeräten, Hydrophonen und so weiter wird man mehr und mehr erfahren. Aber wenn ich mit Mac rede, bekomme ich den Gesamteindruck seines Drangs, das Riff zu schützen und zu retten, und zwar in erster Linie vor den Menschen.«
»Ja. Auch Rudis Arbeit finde ich interessant«, sagte Jennifer. »Vielleicht, weil ich den praktischen Nutzen sehe. Aus Meeresorganismen abgeleitete Chemikalien, die vielleicht zur Heilung von Krebs eingesetzt werden können, die den Farben UV -Bestandteile zusetzen, damit sie sich in der Sonne um Jahre länger halten, und dergleichen mehr. Auch er spricht von der Koexistenz, von Riff-Fischen, die in Anemonen leben, und von einer recht geläufigen Verbindung von Giften, wobei einer den anderen schützt.« Jennifer unterbrach sich. Entsprach das ihrer Beziehung zu Blair? Zwischen ihr und ihrer Mutter? Manchmal giftig, aber aufeinander angewiesen?
Tony schien ihr plötzliches Schweigen nicht zu bemerken. Er legte sein Sichtglas auf die Wasseroberfläche und spähte, die amerikanische Basecap weit in den Nacken geschoben, ins Wasser. Eher zu sich selbst sagte er: »Das ist besser als Fernsehen. Es ist, als wäre man Gott, der vom Himmel herab die Umtriebe dieses kleinen Universums beobachtet.« Ohne den Kopf zu heben, fügte er hinzu: »Angesichts des großen Plans sind unsere alltäglichen Dramen, Freuden, Tragödien doch ziemlich unbedeutend.«
Jennifer fühlte sich von der beiläufigen Bemerkung getroffen. Tony interessierte sich nicht für ihr Privatleben, wusste nicht, was zwischen ihr und Blair vorgefallen war. Das nahm sie zumindest an, wenngleich jeder andere auf dieser verdammten Insel alle Einzelheiten zu kennen schien. Er war immer noch ein zurückgezogener, in sich gekehrter Mensch, den solche Geschichten ohnehin nicht interessierten. Angesichts des großen Plans war das Zerwürfnis zwischen ihr und Blair vielleicht kein Drama, doch in ihr brannte der Schmerz über den Betrug. Sie richtete sich auf und fragte sich, warum ihr Rücken so weh tat. »Oh, wir sind schon seit zwei Stunden hier!«
Tony war überrascht und warf einen Blick auf die Uhr. »Die Flut kommt rein, wir müssen zurück. Folge mir.«
Wohlüberlegt setzte er seine Schritte. Das Wasser sprudelte bereits wieder in die Priele, und Jennifer war dankbar für ihren Wanderstab. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie das freigelegte Riff bis kurz vor dem Absturz ins tiefe Wasser überquert hatten. Sie konzentrierte sich darauf, in ihren alten Gummischuhen in Tonys Fußstapfen zu treten. Hin und wieder hob sie den Blick und betrachtete den Ansichtskarten-Ausblick auf den Sandstreifen, die Reihe von Palmen, die die Ferienanlage halb verbarg, und die bunten Punkte – die Leute – am Strand und auf dem Riff.
Als sie ihre Schuhe auszogen, um sie seitlich des Taucherschuppens zu den übrigen Schuhen, Sichtgläsern und Wanderstäben zu hängen, fühlte Jennifer sich entspannt wie schon seit Jahren nicht mehr. »Das war faszinierend. Danke für die Führung.«
»Ich verfüge nicht über so viel Wissen wie Isobel, aber ich freue mich, dass du es gewagt hast.« Er schenkte ihr ein warmes Lächeln.
»Sie ist sehr begeisterungsfähig, nicht wahr?«, pflichtete Jennifer ihm bei. »Magst du einen Kaffee?«
»Nein, danke. Ich will noch mit Rudi sprechen. Augenscheinlich hat er irgendeine Behörde für seine Arbeit interessieren können. Darüber wüsste ich gern mehr. Was sind deine Pläne?«
Ohne zu überlegen, sagte sie: »Ich muss heute Nachmittag aufs Festland. Meine Mutter ist nach Headland Bay gezogen. Großmütterliche Sorge oder was auch immer. Vielleicht können wir, wenn ich zurück bin, mit Mac über das Buch sprechen?«
»Klingt gut. Die Leute fangen an, das Unterwasserfahrzeug für einen Test-Tauchgang instand zu setzen. Viel Spaß beim Besuch bei deiner Mutter.«
Sie stand auf. »Ich will mir Mühe geben. Ich hasse es, bemuttert zu werden.«
Er lachte. »Genieße es, solange es noch möglich ist.« Er ging zum Strand hinunter und schlug den Weg zur Forschungsstation ein. Jennifer hoffte, dass Blair zu tun hatte, damit sie in ihre Unterkunft schlüpfen und einpacken konnte, was sie zum Festland mitnehmen wollte. Sie konnte ihre Mutter nicht länger hinhalten. Nun ja. Auf dem Kaffeetisch lag ein Zettel von Blair, den offenbar eine der Hauswirtschafterinnen hinterlegt hatte. »Deine Mutter ruft ständig an. Melde dich, um Gottes willen, bei ihr und fahr zu
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