Die Kristallhexe
»Nein.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nein.«
»Ich habe frischen Tee aufgebrüht, Norbert«, sagte Maurice, als Rimmzahn seine Hütte betrat. Im Gegensatz zu dem Schweizer hatte er die ganze Nacht lang mit den anderen gegen das Feuer gekämpft. Er stank nach Rauch und Schweiß und war so müde, dass er kaum noch die Augen aufhalten konnte. Doch die morgendliche Tasse Tee mit Rimmzahn war nach wenigen Wochen bereits zu einer Tradition geworden, auf die er nicht verzichten wollte.
Er stellte die beiden Tassen auf den Tisch und rückte die Stühle zurecht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rimmzahn zu der Waschschüssel, die auf seiner Kommode stand, ging und sich Gesicht und Hände wusch.
»Du hast bei der Löschung des Brandes geholfen«, sagte Rimmzahn, nachdem er sich abgetrocknet hatte. »Warum?«
Maurice hatte geahnt, dass die Frage kommen würde. Er war darauf vorbereitet. »Andere hätten zu Schaden kommen können. Ich wollte nicht, dass einem unserer ...« Er überlegte kurz. »... unserer Mitreisenden etwas zustößt.«
»Denkst du, ich wollte das?« Rimmzahn setzte sich an den Tisch und drehte seine Teetasse zwischen den Fingern. Maurice hatte die Tassen von einem Töpfer auf dem Markt herstellen lassen, damit sie ihren Tee nicht aus Holzbechern trinken mussten. Sie waren nicht perfekt, sie hätten ebenmäßiger sein können, und die Henkel waren zu klein, aber Maurice war stolz darauf. Rimmzahn hatte sich nicht bedankt, als er sie ihm zeigte, sie sogar kaum beachtet.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Maurice. Er fragte sich, wann die Unterhaltungen mit Rimmzahn zu einem solchen Minenfeld geworden waren. »Wir beide haben ihnen geholfen, jeder auf seine Art.«
»Wenn du das glauben möchtest, werde ich dich nicht davon abhalten.«
Sie schwiegen sich an. Über den Rand seiner Tasse hinweg musterte Maurice Rimmzahn. Der Schweizer hatte sich verändert, und er war sich nicht sicher, ob er diese Veränderung als positiv oder negativ bewerten sollte. Seit er Anhänger um sich scharte und mit ihnen für eine bessere Welt betete, trug er ein weißes Gewand, das von einem einfachen Ledergürtel zusammengehalten wurde, und einfache braune Schnürsandalen. Mit diesem Rimmzahn konnte man nicht mehr über die Vorteile maßgeschneiderter Ziegenlederschuhe sprechen oder die Adressen der besten Schneider in Bangkok austauschen. Diese Zeiten waren zumindest fürs Erste vorbei.
Doch das war nicht das Einzige, was Maurice vermisste. Er sah zwar immer noch zu Rimmzahn auf, etwas anderes hätte er gar nicht gewagt, aber das, was ihn auszeichnete, sein scharfer Verstand und seine Fähigkeit, andere nach nur kurzer Zeit zu sezieren und bis in deren Seelenabgründe zu durchschauen, flackerten nur selten auf.
Maurice wünschte, ihm wäre ein positiveres Wort als »Verblendung« für den Zustand eingefallen, in dem sich Rimmzahn befand, aber genau so nahm er ihn wahr. Alles ordnete er in den Kontext dieses Glaubens ein, den er gefunden hatte und den er mit dem Eifer eines evangelikalen Fernsehpredigers verkündete. Das erschwerte Unterhaltungen mit ihm, war aber nicht der Hauptgrund für die Spannungen zwischen ihm und Maurice. Der lag woanders.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Rimmzahn erwartungsgemäß. »Wir würden dich mit offenen Armen aufnehmen.«
»Ich weiß.«
Wieder dieses »wir«. Maurice fragte sich, ob Rimmzahn es absichtlich benutzte, um ihm zu verdeutlichen, dass er zu einem Außenseiter geworden war, den man früher oder später ganz verstoßen würde. Der Gedanke setzte ihn unter Druck. Er hatte sich von Anfang an auf seine Freundschaft mit Rimmzahn konzentriert. Kein anderer Überlebender mochte ihn, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Ich bin noch nicht bereit dazu«, fuhr Maurice nach einem Moment fort. »Ich wäre es gern, Norbert, aber ich muss erst lernen, über meinen Schatten zu springen.«
Das war nicht ganz die Wahrheit, denn in Wirklichkeit hatte Maurice Angst vor Rimmzahns Anhängern. Er gruselte sich vor ihrem Lächeln, und ihre salbungsvollen, auswendig heruntergebeteten Klischees widerten ihn an. Sie erinnerten ihn an die Fertigungsroboter, die in den großen Hallen des Konzerns standen, für den er arbeitete. Man drückte einen Knopf, und sie führten eine Tätigkeit aus, immer und immer wieder, ohne zu ermüden, ohne sie zu hinterfragen. Er wollte nicht so werden.
Deshalb ging er auch der Tochter der Müllers aus dem Weg, dieser Sandra, die ständig versuchte, ihn zu
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