Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
Umschlag.
Er war weder adressiert noch gestempelt – auf der Vorderseite stand mit fettem schwarzem Filzstift lediglich der Name D. Qazai . Webster hob die Lasche an, die verschlossen gewesen und geöffnet worden war, und zog zwei Fotos heraus, die das Format von Urlaubsschnappschüssen hatten. Zunächst schien es, als wären es Schwarz-Weiß-Bilder, doch im kontrastreichen Helldunkel der Blitzlichtaufnahme war doch etwas Farbe, ein Dunkelrot auf Höhe der Schläfe, das in den Haaren klebte und an der Wange hinunterlief; und auf dem strahlend hellen Weiß des Hemds war ein hellerer roter Fleck. Das war Senechal, der wie ein Kind zusammengekauert auf der Seite lag, und er war eindeutig tot.
Webster schloss die Augen. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gefühl der Angst. Das Bild deckte sich so sehr mit seiner Erinnerung an den Körper, der bäuchlings in der Wüste gelegen hatte, dass er annehmen musste, er hätte ihn getötet und kurz darauf hätte jemand das Beweisstück fotografiert. Er zwang sich, erneut einen Blick darauf zu werfen. Das Blut war scharlachrot, frisch, noch flüssig, und die Wunde so rot, dass sie fast schwarz war; der Körper lag auf Asphalt, nicht auf Sand, und in der rechten oberen Bildecke war so etwas wie ein Autoreifen zu erkennen. Webster nahm das nächste Foto. Darauf starrte Senechal direkt in die Kamera, ein Auge war geöffnet, das andere, in das man geschossen hatte, nur noch ein schwarzes Loch.
In Websters Rachen stieg Magensäure auf, er kämpfte gegen den Brechreiz an. Eine Angst wurde durch eine andere abgelöst, und als er die Augen schloss, sah er, wie Rad über der Leiche stand, in die Hocke ging und die Kamera dicht über den Boden hielt, damit er das Grauen festhalten konnte, wie ein Metzger, der das Blut auffing.
»Was ist das?«
»Nichts«, sagte Webster, steckte die Fotos zurück in den Umschlag, aber als Ava danach griff, reagierte er zu langsam, und sie riss ihm den Umschlag aus der Hand. Er betrachtete ihr Gesicht und sah, wie sie es zunächst angewidert, dann entsetzt verzog.
»Waren … waren die das?«
Webster nickte.
»Warum?«
»Soll ich raten?«, sagte Webster, nahm ihr die Bilder weg und legte sie zurück in die Schublade. »Weil er etwas von ihrem Geld wollte. Er hat Ihren Vater erpresst.«
»Woher wussten die davon?«
»Vielleicht hat er es ihnen erzählt.«
Ava sah ihn an, schloss die Augen und zitterte.
»Oder sie haben ihn abgehört …« Webster verstummte, denn sein Handy klingelte; es war Oliver. Und er hörte für einen Moment zu. »Okay. Wann wurde es angemeldet?« Er lauschte erneut. »Danke. Wir sehen uns später.« Er legte auf und sah Ava an. »Die letzte Nummer, die er von diesem Telefon aus angerufen hat, war ein Prepaid-Handy. Es ist am Sonntag auf einen Namen und eine Adresse angemeldet worden, die nicht existieren. In London.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Sie sind hier. Ihr Vater redet immer noch mit ihnen.«
Einen Augenblick lang sagten die beiden nichts. Ava lehnte sich gegen ein Bücherregal und starrte mit verlorenem Gesichtsausdruck durch das Fenster auf die gegenüberliegende Backsteinwand.
»Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«
»Was haben wir denn in der Hand?«, fragte Webster. »Das ist das Bild eines toten Mannes. Wir wissen nicht, wo es gemacht wurde. Wo sich die Leiche befindet.«
»Wir müssen jemanden davon informieren.«
Webster schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand darf davon erfahren, bevor das Geld überwiesen wurde.« Er hielt inne, beobachtete, wie sie reagierte. »Senechal hat keine Familie. Und auch keine Freunde.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es eben.«
»Was, wenn mein Vater nicht wieder auftaucht?«
»Ich werde ihn finden. Und Sie schinden etwas Zeit.«
26
»Ich kann da nicht rein«, sagte Ava. »Da sind zu viele von denen.«
Sie trat zurück, und Webster spähte um die Tür herum. An einer Seite des gewaltigen schwarzen Tisches, mit dem Rücken zu den uneinheitlichen Türmen der City, die hell in der Mittagssonne funkelten, saßen fünf Männer, alle in Anzügen, vor jedem lag ein Notizblock. Webster fragte sich, ob sie sich so hingesetzt hatten, damit ihre Gesichter im Schatten waren oder damit ihre Besucher die Aussicht genießen konnten.
»Sie haben recht«, sagte er. »Das sind viel zu viele Anwälte. Kommen Sie.«
Er ging vor ihr einen holzgetäfelten Flur hinunter und durch eine Glastür in den Empfangsbereich von Tabriz, der aus Marmor war und hell
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