Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
die er glücklicherweise ganz für sich hatte, und ihn dort alleine gelassen. Sie war kahl, hell beleuchtet und einigermaßen sauber. Hoch oben in der Ecke beobachtete eine Kamera, wie er sich auf eine der Pritschen setzte und mit dem Rücken zur Wand die gegenüberliegende Seite anstarrte.
Das letzte Mal eine Zelle von innen gesehen hatte er vor über zehn Jahren in Kasachstan, wo seine Freundin Inessa, Journalistin wie er, für ihn unerreichbar vier Zellen weiter gestorben war. Die Erinnerung daran war noch frisch genug und rückte die Dinge hier in die richtige Perspektive, und er fing an, langsam und gewissenhaft seine Lage zu analysieren. Nicht mal die Hälfte von dem, was man ihm zur Last legte, traf zu, und natürlich hatte er kein Telefon angezapft; in der angelsächsischen Welt war das seit Jahrzehnten tabu. Diese Erkenntnis tröstete ihn.
Sowie die Tatsache, dass sich die Sache mit Ruffino politisch betrachtet vor Jahren erledigt hatte und dass das Geschäft längst über die Bühne gegangen war: Die Österreicher hatten den Kürzeren gezogen, die Russen hatten die Firma übernommen, und Ruffino selbst hatte, obwohl er bestritt, dafür verantwortlich zu sein, zweifellos eine hübsche Summe für den erfolgreichen Abschluss des Vorhabens erhalten. Als Webster vor Jahren nach Mailand gekommen war, stand über die Auseinandersetzung täglich etwas in der Presse, und sein Mandat für Dorsa und seinen ausgesprochen dubiosen Freund war eine äußerst heikle Sache: Er sollte beweisen, dass dieser italienische Anwalt, Vertrauter von einem Dutzend zwielichtiger Milliardäre, die ganzen Anteile an der österreichischen Firma im Auftrag der Russen erworben hatte und nicht für sich selbst. Ja, es war eine unappetitliche Angelegenheit, und als Ruffino Klage gegen Websters alte Firma GIC einreichte und ihn beschuldigte, an einer bösartigen Rufmordkampagne beteiligt gewesen zu sein, hatte Webster sich gewundert, dass jemand noch mehr Aufmerksamkeit auf eine Sache lenken wollte, die bereits besorgniserregend öffentlich geworden war.
Er hatte sich länger nicht mit den Fall beschäftigt, aber er war überzeugt, dass sich an der Sachlage nichts geändert hatte. Die Russen hatten immer noch das Sagen. Und soweit er wusste, hatte Ruffino sich anderen ausgeklügelten Betrügereien zugewandt. Es stand nicht mehr viel auf dem Spiel; ja, außer für ihn stand für sonst keinen etwas auf dem Spiel. Das bedeutete, dass es entweder Neuigkeiten gab, von denen er nichts wusste, oder dass es bei der ganzen Sache tatsächlich nur um ihn ging.
Darum wäre die erste Frage an den Anwalt auch sehr einfach: Handelt es sich um eine echte Ermittlung oder um eine Manipulation? Ist irgendetwas geschehen, was echtes Interesse an diesem alten, im Sande verlaufenen Fall geweckt hat, oder hat man ihn sich nochmals vorgenommen, um jemanden einzuschüchtern, der darin verwickelt war? Und bin ich dieser jemand, und falls ja, warum?
Ein Klient hatte ihm mal einen Rat gegeben, wie man die Zeit im Gefängnis am besten rumbringt: Bücher. Doch hier hatte er nichts, womit er die Zeit totschlagen konnte, damit sie schneller verstrich. Man hatte ihm den Koffer und sein Handy abgenommen, und ihm blieb nichts weiter übrig, als nachzudenken und sich den Kopf zu zermartern. So verging eine Stunde, und eine weitere.
Schließlich öffnete sich die Tür, und er wurde von einem uniformierten Polizisten auf Italienisch aufgefordert, ihm zu folgen. Wen Ike wohl kontaktiert hatte, fragte er sich. Bei seinem ersten Aufenthalt in Mailand hatte GIC ihm einen Anwalt mit hervorragendem Ruf besorgt, einen gewissen Signore Lucca, doch bevor sie sich treffen oder miteinander reden konnten, war Webster gefeuert worden; die Sache sorgte daraufhin in der italienischen Presse für wilde Berichte und eine nervöse Rechtsabteilung in New York. Also wäre dies sein erstes Treffen mit einem italienischen Strafverteidiger – oder überhaupt mit einem Strafverteidiger.
Die Zellen lagen im Keller, die Verhörzimmer oben. Man führte ihn in eines davon und forderte ihn auf zu warten, und zum ersten Mal an diesem Tag war er unbewacht. Er glaubte, es sei das gleiche Zimmer, in das man ihn vom Flughafen gebracht hatte, aber er war sich nicht sicher. Nach nur einer Minute öffnete sich die Tür, und Senechal, immer noch so faltenfrei und akkurat wie beim Frühstück, kam in den Raum geschwebt und schloss geräuschlos die Tür hinter sich. Unwillkürlich runzelte Webster die Stirn und
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