Die Lady mit dem Bogen
Tochter. Die Comtesse hob den Blick von ihrer Stickarbeit und richtete ihren kühlen Blick auf Mallory. »Jeder verdient eine Chance zu zeigen, dass das von der Königin in ihn oder sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt ist. Mutter, du hast viel von dir selbst in St. Jude’s Abbey investiert, deshalb würde ich es nur ungern sehen, wenn der Hoffnung, die du dort nährtest, ein vorzeitiges Ende bereitet würde.«
Mallory hielt den Kopf hoch, als die Worte der Comtesse sie schmerzhaft trafen. Hier wurden nicht nur Mallorys Fähigkeiten in Frage gestellt, sondern auch die Zukunft der Abtei.
»Danke, Euer Majestät«, brachte sie mit Mühe heraus. »Königin Eleanor, ich gelobe, jene zu finden, die Euch und Eure verschworenen Getreuen angriffen.«
Die einzige Antwort, die ihr zuteil wurde, lautete: »Danke, Lady Mallory. Kommt nach dem Mittagmahl wieder. Ich brauche Euch, während ich eine persönliche Angelegenheit erledige.«
Mallory, die wusste, dass sie damit entlassen war, entfernte sich rücklings von dem Stuhl der Königin. Sie neigte den Kopf, als sie die Tür erreichte. Sie musste ihre ganze Kraft aufbieten, sich nicht rasch umzudrehen und aus dem Raum zu stürmen, ehe die Tränen in ihren Augen überzufließen drohten. Sie würde nicht weinen. Nein, das würde sie nicht. Tränen waren immer Beweis einer Niederlage. Sie war nicht besiegt. Sie würde es nicht zulassen. Sie konnte es nicht.
Auf dem Weg durch die Korridore blieb sie nicht stehen und sprach mit niemandem. Es war kurz nach Tagesanbruch, deshalb blieben ihr mehrere Stunden, ehe sie zurückkehren musste, um den persönlichen Schutz der Königin zu übernehmen. Sie wollte keine Minute verlieren.
Als Saxon an die Tür pochte, öffnete Ruby mit einem »Guten Morgen«.
Saxon bedachte die Dienerin mit seinem liebenswürdigsten Lächeln, das jedoch neuerdings bei ihr wenig Wirkung zeitigte. Ruby war zuvor nicht unempfindlich gegen seinen Charme gewesen und hatte auf seine Neckereien kichernd wie ein junges Mädchen reagiert. Das hatte sich geändert, seitdem ihr die Aufgabe zugefallen war, über Mallory zu wachen. Die zwei Frauen ergänzten sich perfekt, da beide sich ihre Pflichten zu Herzen nahmen und sich von einer Bagatelle wie einem einschmeichelnden Lächeln nicht ablenken ließen.
»Könnte ich Lady Mallory sprechen?«, fragte er.
»Sie ist nicht da.«
»Sagte sie, wohin sie wollte?«
Ruby brach in Tränen aus.
Verblüfft trat Saxon ein, legte Ruby den Arm um die Schulter und führte sie zu einem Stuhl. Auf diesen setzte er sie und ging dann zu einer offenen Flasche Wein. Er schenkte großzügig ein und brachte ihr den Becher.
Die Dienerin murmelte etwas, das nach Dank klang, ehe sie ein Schlückchen trank.
Er faltete die Hände im Rücken, während er den Blick durch den Raum wandern ließ. Wie nach Rubys ungewöhnlicher Reaktion auf eine einfache Frage zu erwarten, waren weder Mallorys Bogen noch ihr Köcher zu sehen. Sie war irgendwo, um zu tun, was sie der Königin versprochen hatte. Er hätte Mallory das Versprechen entlocken sollen, sie würde den Palast nicht eher verlassen, bis er mit ihr ging.
Neben dem Stuhl der Dienerin niederkniend, nahm er ihre Linke zwischen seine beiden Hände. Er wartete, bis sie ihren Wein ausgetrunken hatte, ehe er fragte: »Was hat sie vor, Ruby?«
»Heute Morgen wurde sie zur Königin und Comtesse Marie befohlen. Sie verriet nichts von der kurzen Audienz, doch vermute ich, dass die Königin nicht erfreut ist, dass die Bogenschützen, die auf sie schossen, noch nicht gefunden wurden.«
Er nickte. Königin Eleanor legte an jene, die ihr dienten, die höchsten Maßstäbe an. Das machte sie einigen Menschen lieb und wert, weckte bei anderen jedoch Missfallen. Viele der ihr nicht Wohlgesinnten suchten nun ihre Macht mit Gerüchten und blanken Lügen sowie mit der Wiederholung alter, ihrem Ruf nicht zuträglichen Geschichten zu untergraben – so wurde ihre angebliche Affäre mit ihrem Onkel, während sie sich auf dem Kreuzzug befand, immer wieder aufgegriffen. Saxon fand, dass sie ihrem Gemahl sehr ähnlich war. Beide waren von ihrem Recht zu herrschen überzeugt – zu herrschen, wie sie es für richtig hielten. Für diejenigen, die beide kannten, konnte es keine Überraschung sein, dass es zu offener Rebellion gekommen war, als beide versuchten, die Oberhand zu gewinnen. Wäre Eleanor als Mann geboren worden, hätte sie als Herzog von Aquitanien den Königen von Frankreich und England den Krieg
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