Die Lady mit dem Bogen
Palast lief, fragte sie sich, wie viel Blut ein Mensch verlieren und dennoch überleben konnte.
Auch am nächsten Morgen wusste Mallory noch immer keine Antwort darauf. Sir Godard klammerte sich mit einer Beharrlichkeit ans Leben, wie man sie bislang an ihm nicht gekannt hatte. Auf einer Seite des Bettes lief Saxon auf und ab, während auf der anderen der Priester mit düsterer Miene saß. Die Wunde war genäht worden, doch war viel Blut auf den Boden der Krypta geflossen.
Als der Wundarzt eintraf, wies er alle aus dem Raum. Saxon protestierte, und der vierschrötige Mann war schließlich einverstanden, dass er als Bruder des Verwundeten bleiben solle, die anderen aber, darunter auch der Priester, mussten gehen.
Saxon ging mit Mallory an die Tür. Er umfasste ihre Hände und sagte: »Ich schicke nach dir, wenn eine Veränderung eintritt, Liebste.«
»Ich möchte hier bei dir bleiben.«
»Ich möchte, dass du hier bei mir bleibst.« Er legte die andere Hand an ihr Gesicht. »Jetzt aber geh und kleide dich um. Ich mag dich nicht mit Blut befleckt sehen.«
Ihr Gesicht wurde kalt. »Ach, Saxon, das tut mir leid. Ich dachte nicht daran, dass mein Kleid dich erinnern würde …« Sie warf einen Blick zum Bett.
Er drehte ihr Gesicht zu sich. »Ich mag es nicht, Blut an dir zu sehen. Ich schicke nach dir, sobald es geht.«
»Ich bin in meinem Gemach.«
»Findet um diese Zeit nicht dein Training statt?«
»Ja, aber meine einzige Schülerin ist Lady Fleurette d’Ambroise. Ich bezweifle, ob sie heute zur Stelle sein wird.«
»Geh, Liebste, und sieh, ob sie kommt. Wenn ja, dann halte deine Stunde. Damit dir die Zeit rascher vergeht.«
Sie legte ihre Hand auf seine, die auf ihrem Gesicht lag. »Wir sind wie immer am Fluss.«
»Geh nicht allein.«
»Ich nehme Ruby und Chance mit.«
»Zwei gute Bewacher.« Er ließ sie los, als vom Bett her ein Stöhnen zu hören war.
Mallory schloss die Tür und eilte den Korridor entlang. Alle, die ihr begegneten, wandten die Blicke ab. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Niemand wollte an das Geschehene erinnert werden.
Man munkelte, d’Ambroise drohe die Ächtung, und falls er Lady Violet heiratete, würde die Ehe annulliert werden, weil die Königin nicht ihr Einverständnis gegeben hatte. Sie war nicht sicher, ob dieses Gerede auf Wahrheit beruhte.
Eine Stunde später, als Mallory über die Wiese am Fluss ging, wurde sie von ihrer Zofe und Chance begleitet, die sich dicht bei ihr hielten. Eine einsame Gestalt stand neben dem Heuschober, der ihren Schülerinnen als Ziel diente.
»Warte hier«, sagte sie zu Ruby.
»Wie Ihr wünscht, Mylady.« Die Zofe konnte nicht verhehlen, dass sie der jungen Frau misstraute.
Mit einem Blick, der Chance galt, wiederholte Mallory: »Warte hier.«
Ruby legte ihre Hand auf den Kopf des Hundes, und Chance setzte sich mit traurigen Augen, wandte den Blick jedoch nicht von Mallory. Sie schenkte beiden ein aufmunterndes Lächeln und ging über die Wiese.
Lady Fleurette blicke auf, als Mallory näher kam. Die Spuren heißer Tränen glänzten in der Sonne auf ihren Wangen. Sie hielt ihr den nicht gespannten Bogen entgegen.
»Es tut mir leid, Lady Mallory«, flüsterte sie. »Ich wünschte, ich könnte mit den Stunden weitermachen, doch kann ich verstehen, wenn Ihr mich nie wieder unterrichten wollt.«
»Wir können unser Training fortsetzen, wenn Ihr wollt«, entgegnete Mallory, ohne den angebotenen Bogen zu nehmen.
»Ich möchte ja gern, aber ich muss fort. Meine Familie wurde durch die Tat meines Bruders entehrt. Ich bin hier am Hof nicht mehr willkommen. Gerüchten zufolge soll Landis sogar derjenige gewesen sein, der versuchte, die Königin zu töten. Ich weiß, dass es nicht stimmt, doch kann ich es nicht beweisen, da ich fortgehen muss.«
»Die Königin hat Euch vom Hof verbannt?«
Lady Fleurette schüttelte den Kopf. »Das war nicht nötig, da ich ihr freiwillig anbot fortzugehen. Ich wollte, dass Ihr wisst, Lady Mallory, dass mein Bruder kein Mörder ist.«
»Sir Godard …«
»Ich weiß davon«, sagte sie mit aschfahlem Gesicht. »Ebenso weiß ich, dass mein Bruder niemals die Absicht hatte, ihn zu töten. Landis wollte ihn nur aufhalten, um mit seiner Dame ungehindert zu entkommen.«
Mallory nickte. Sie glaubte Lady Fleurette, dass Landis’ ganzes Sinnen und Trachten einzig Lady Violet gegolten hatte. Ein verliebter Narr hatte einen verhängnisvollen Fehler begangen, für den er und seine Familie nun büßen
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