Die Lady mit der Feder - Roman
Anthony durfte nicht argwöhnen, warum Jordan sich so nahe an der Mauer herumtrieb.
»Sie weiß, dass Ihr Euer Bestes getan habt«, gab Jordan zurück. »Ich bin gekommen, um Gott zu danken, dass der schlimme Winter endlich von uns abließ.«
»Und dass die Karwoche beginnt. Wenn Ihr mich entschuldigt, ich muss mich um die Vorbereitungen für die nächste Messe kümmern.«
Isabella bewegte sich ein bisschen, um den Kanonikus zu
beobachten, der zum Chor ging. Er wirkte klein vor dem reich verzierten Lettner, der Trennwand zum Chor, und den schönen Bänken mit ihren Miserikordien, und sie gewann den Eindruck, dass auch die geschnitzten Holzfiguren ihn beobachteten.
Sie umklammerte den Steinbogen, als sie hinunterstarrte und ihren Augen nicht trauen wollte. Alle geschnitzten Köpfe des Lettners blickten zum Boden des Chores. Das konnte kein Zufall sein. Es musste ein bestimmter Grund dahinterstecken. Waren sie Hüter eines geheimen, nur dem Bischof bekannten Versteckes?
Sie schlang die Peitsche wieder um den Bogen und glitt daran so rasch hinunter, dass sie sich die Haut an ihren Händen aufschürfte. Sie bewegte ihre Finger, um sie zu kühlen, und sagte: »Ich glaube zu wissen, wo die Kassette ist.«
Jordan grinste. »Wo denn?«
»Komm mit.« Sie nahm seine Hand, ohne Rücksicht auf das Brennen ihrer Hände. Sie zwang ihre Füße zu einem Schlendergang, wiewohl sie am liebsten die ganze Länge des Kirchenschiffs entlanggelaufen wäre. Im Chor kniete sie nieder und hob den Sitz einer Bank, um die Miserikordien zu betrachten. Geschnitzte Blumen flankierten einen mit einem Bullen ringenden Mann. Die Blicke beider waren zu Boden gerichtet.
»Es ist eine Miserikordie«, sagte er ungeduldig. »Du hast mir den Zweck bereits erklärt.«
Sie hob die Sitze zu beiden Seiten an. Einer zeigte den Engel und das Kind, den anderen schmückte ein Löwe, der den eigenen Schweif im Rachen hielt. »Siehst du?«
»Was soll ich sehen?«
»Sieh doch, was sie alle mit den Figuren auf dem Lettner gemeinsam haben.«
»Sie alle …« Sein leiser erstaunter Pfiff hallte sonderbar in der hohen Kathedrale wider. »Sie alle blicken zu Boden.«
»Oder auf das, was sich darunter befindet.« Sie fiel auf die Knie und strich mit den Fingern über die Steine. »Lord d’sAl pins Haus ist möglicherweise nicht das einzige, unter dessen Boden sich etwas verbirgt.« Sie zog ihren Dolch und stocherte mit der Spitze zwischen zwei Steinen.
Er fasste nach ihrer Hand. »Isabella, du weißt nicht, welche Steine das Versteck decken, falls eines existiert. Du kannst sie nicht alle umdrehen.«
»Es könnte dem Kanonikus auffallen.«
»Ja, falls der ganze Chor bei der nächsten Messe absackt.« Er ging neben ihr in die Hocke und strich mit der Hand über die Steine.
»Was machst du da?«
»Nachdem ich deinen Schlaftrunk trank, zeigtest du mir im Traum, dass die Temperatur der Steine vom Hintergrund abhängt.« Er lächelte, als seine Hand zwischen zwei eng nebeneinandergesetzten Steinen anhielt. »Diese da sind kühler als die anderen. Es könnte ein Hohlraum darunter sein.«
»Das sagte ich in deinem Traum?«
Er umfasste ihr Kinn. »Alles andere aus dem Traum hat sich erfüllt. Warum nicht auch dies?«
»Ja, warum nicht?« Sie reichte ihm Ryces Messer. »Verwende dies nun für einen guten Zweck.«
»Ryce hätte es gefallen.« Er rammte das Messer in den schmalen Spalt zwischen den zwei Steinen, zog es jedoch
sofort wieder zurück, als um sie herum Gesang ertönte. »Ein Gottesdienst beginnt.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Wieder ein Zeichen für unser anhaltendes Pech, dass wir diese Erkenntnis ausgerechnet am Palmsonntag hatten.«
»Wir können morgen wiederkommen, wenn es hier ruhiger ist.« Er stand auf und steckte das Messer in den Gürtel. »Es läuft uns nicht davon, Isabella.«
»Hoffentlich hast du Recht.«
Jordan saß im Hauptraum von Lord d’sAlpins Haus auf einem Stuhl. Auf dem einzigen anderen Stuhl wartete Lady Odette darauf, dass er ihre letzte Frage beantwortete. Er wünschte, er hätte noch gewusst, was sie gefragt hatte. Seine Gedanken waren weder bei ihr noch bei der geplanten Zusammenkunft nach der Fastenzeit.
Wo steckte Isabella? Sie hatte nicht gesagt, was sie vorhatte. Seit ihrer abenteuerlichen Wanderung im Tunnelsystem unter dem Hügel war er immer in ihrer Nähe geblieben. In die Kathedrale konnte sie nicht gegangen sein, da dort Teamarbeit gefordert war. Einer musste die Kassette ausgraben, während der
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