Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
zu wenig. Haben Sie etwas dagegen?«
Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war es in Ordnung, auf einer öffentlichen Straße mit seinem Arbeitgeber gesehen zu werden, aber sie hoffte trotzdem, dass weder Marie noch Mrs Taylor zufällig aus dem Fenster schauten.
Sie ließen sehr viel mehr Raum zwischen sich als nur die angemessene Distanz. Charlotte hatte die Hände auf dem Rücken, er wechselte seine Arzttasche regelmäßig von einer Hand in die andere, da sein Arm immer wieder ermüdete.
Nachdem sie mehrere Minuten schweigend nebeneinander hergegangen waren, fragte er sie: »Und wie gefällt Ihnen die Küste?«
»Sehr gut.«
»Das freut mich.« Er räusperte sich. »Ich hoffe, das Verhältnis zwischen Ihnen und Mrs Taylor ist nicht zu … angespannt?«
Sie zögerte. »Äh, nein, eigentlich nicht.«
»Sie ist noch nicht wieder ganz sie selbst. Ich wünschte, Sie würden sie kennen, wie ich sie kenne, glücklich und warmherzig und lebenslustig …«
»Aber es geht ihr auf jeden Fall sehr viel besser!«, unterbrach Charlotte ihn. »Dafür muss man dankbar sein.«
»Das bin ich auch. Trotzdem. Ich hatte gehofft, Sie beide könnten Freundinnen werden.«
»Dr. Taylor, Sie und Ihre Frau sind meine Arbeitgeber. Ich erwarte keine Freundschaft.« Sie wechselte rasch das Thema. »Fahren Sie diese Woche wieder nach London?«
»Ja. Ich werde ein paar Tage im Manor verbringen und auch meinen Vater besuchen.«
»Grüßen Sie ihn von mir.«
»Das mache ich.«
Sie hatten gerade die Holzbrücke überquert und waren bereits auf dem Weg, der nach Old Shoreham hinein führte, als ihnen ein gut gekleideter Mann entgegenkam. Er hielt den Kopf im Gehen gesenkt und war offensichtlich tief in Gedanken versunken. Unter seinem Hut drangen dichte, blonde Locken hervor. Charlotte blieb hinter Dr. Taylor zurück, damit der Mann Platz hatte und vorbeigehen konnte.
Doch plötzlich blieb Dr. Taylor stehen.
»Kendall? Richard Kendall?«
Der Mann mit dem goldenen Haar blickte auf. Auf seinem herzförmigen, jungenhaften Gesicht erschien ein breites Lächeln.
»Taylor! Bist du es wirklich?« Die beiden Männer gingen aufeinander zu, schüttelten sich kräftig die Hände und klopften sich auf die Schultern. Charlotte stand abseits, neben dem Weg, wo sie alles beobachten konnte, ohne aufdringlich zu wirken.
Sie hatte Dr. Taylor nur selten so warm, mit so aufrichtiger Freude lächeln sehen. Bei diesem Anblick, dem glücklichen Wiedersehen zweier alter Freunde, stiegen ihr unerwartet die Tränen in die Augen – und vielleicht spürte sie auch einen leisen Anflug von Neid.
Zwei Arbeiter kamen über die Brücke, sie trugen Kisten mit Fischen auf den Schultern. Einer von ihnen sah ihr frech ins Gesicht. Unbewusst trat sie einen Schritt näher an Dr. Taylor heran.
»Ich dachte, du praktizierst in London«, sagte Dr. Kendall.
»Das tue ich auch.«
»Und was führt dich dann in unser schönes Dorf?«
»Meine Frau und ich haben ein Cottage nicht weit von hier gemietet.«
»Bitte, stell mich doch vor.«
Dr. Taylor folgte dem Blick seines Freundes und schaute über die Schulter zurück zu Charlotte. »Oh, das ist nicht meine … Mrs Taylor ist mit unserer Tochter zu Hause geblieben. Das ist Miss Charlotte Lamb. Eine … Freundin der Familie.«
»Miss Lamb.« Das Lächeln des Mannes war völlig arglos, was Charlotte erleichternd und gleichzeitig entzückend fand. Er verbeugte sich und sah dann mit hochgezogenen Brauen zu Daniel hinüber.
»Oh!« Daniel schrak zusammen. »Verzeih mir. Miss Lamb, darf ich Ihnen Dr. Richard Kendall vorstellen, Arzt und Freund.«
»Wie geht es Ihnen, Sir?« Charlotte knickste.
»Sehr gut, danke. Ich bin über die Maßen erfreut, Taylor wiederzusehen. Wir waren zusammen auf der Universität, wussten Sie das?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Miss Lamb, Sie können sich kaum ein paar armseligere Kandidaten der Wissenschaft vorstellen.«
»Nein, bestimmt nicht«, stimmte Daniel zu.
»Miss Lamb …«, Kendalls Augen leuchteten auf einmal auf, als er ihren Namen wiederholte. »Doch nicht die Miss Lamb …?«
Charlotte wandte unsicher den Kopf: »Ich weiß nicht …«
»Aus Kent. Doddington, so hieß doch der Ort, nicht wahr?« Er sah Daniel an, dem die Röte ins Gesicht stieg.
»Ja«, sagte Charlotte unbehaglich.
»Taylor hat in Edinburgh mit großer Hochachtung von Ihnen gesprochen, das dürfen Sie mir glauben.«
Daniel räusperte sich. »Du hast vielleicht ein Gedächtnis, Kendall!«
»Ja. Das
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