Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
London und Brighton.
Margaret Dunweedy, Charlottes Großtante, war eine kleine, drahtige Frau mit einer für ihr Alter überraschenden Lebhaftigkeit. Ihr weißes Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, den sie um den Kopf legte und feststeckte. Ihre Augen waren kornblumenblau, ebenso wie das feine Netz von Adern um die Augen, das das Blau der Iris noch unterstrich. Margaret war immer in Bewegung. Sie hatte Charlotte und das Baby mit großer Wärme und Begeisterung aufgenommen und eilte nun unermüdlich hin und her, kochte Tee, schleppte immer noch mehr Decken heran und war ganz einfach außer sich vor Freude darüber, dass sie wieder Gesellschaft in ihrem schönen Haus hatte. Ihr Mann war vor zwanzig Jahren gestorben und ihr Sohn Roger, der in Manchester lebte, war viel zu beschäftigt, um sie oft zu besuchen.
Margaret Dunweedy hatte einen einzigen Fehler, den Charlotte rasch herausfand: Ihr Redefluss fand kein Ende. Die fröhliche Frau schien nie um ein Thema verlegen zu sein. In den ersten Wochen war das noch ganz angenehm für Charlotte, denn Mrs Dunweedy stellte keine Fragen, sondern war glücklich, immer neue Geschichten aus ihrem eigenen Leben erzählen zu können. Doch im Verlauf der langen Wintermonate wurde Charlotte des ständigen Geplappers allmählich müde.
Andererseits verging der Winter für sie relativ angenehm und komfortabel. Dr. Taylor besuchte seine Tochter alle vierzehn Tage, wenn sein Terminkalender und der Straßenzustand es erlaubten. Seiner Frau ging es etwas besser, hatte er erzählt, aber sie war immer noch krank.
Anne schlief allmählich die Nächte durch und Charlotte ebenfalls. Sie war überrascht, wie viel besser sie sich bereits fühlte, wie viel leichter das Leid, die drückende Last des Kummers, auszuhalten war. Er war natürlich noch da und lag schwer wie ein Kapuzenmantel über ihrem Kopf und ihren Schultern. Anfangs war dieser Mantel ein Kettenhemd aus stachelbewehrtem Eisen gewesen, unter dessen Gewicht sie zusammenzubrechen drohte. Im Laufe der Wintermonate war ein schwerer grauer Wollmantel daraus geworden, dessen Kapuze ihr über die Augen fiel, kein Licht durchließ, sie in Dunkelheit hüllte und zu ersticken drohte. Doch als der Frühling kam, wurde der Mantel leichter. Jetzt war er wie ein Umhang aus dickem Samt oder Damast. Sie konnte ihn noch immer mit jeder Faser ihrer Haut, ihres Wesens, spüren, doch jetzt ließ er ein wenig Licht durch und sie konnte wieder atmen. Dennoch gab es keine wache Stunde, in der sie nicht an Edmund dachte, und kaum eine Nacht, in der sie nicht träumte, wie sie ihn suchte oder, schlimmer, dass er einen steilen Abhang hinunterstürzte und sie ihn nicht halten konnte. Wie sehr sie sich auch anstrengte, ihn zu fassen zu bekommen, es gelang ihr nie.
Sobald es das Wetter zuließ, zog sie Anne warm an und nahm sie mit hinaus in den noch winterlich verwahrlosten Garten. Manchmal ging sie auch weiter hinaus, auf das feuchte, brachliegende Feld hinter dem Cottage, im Gedenken an das Credo ihrer Mutter: »frische Luft und Bewegung«. Dann schloss sie die Augen und atmete den Duft lehmiger Erde und welken Salbeis ein und nahm die seltene Stille tief in sich auf.
An einem solchen Tag im März bemerkte sie eine Kutsche, die auf der Straße jenseits des Tals hielt. Irgendetwas an dem Pferd und der Karosserie war ihr vage vertraut, doch aus der Entfernung konnte sie den Fahrer nicht erkennen. Als sie zu dem auf offener Straße haltenden Gefährt hinüberblickte, bemerkte sie ein Blitzen, wie von einem Fernglas. Seltsam , dachte Charlotte. Wurde sie etwa beobachtet?
Es war der erste April. Gareth Lamb starrte seine Schwägerin ungläubig über den Rand seiner Teetasse an. »Willst du damit sagen, dass sie bereits wiederhergestellt ist?«
Amelia Tilney nickte, etwas erschrocken über seinen scharfen Ton.
Ihre älteste Nichte, die Amelia gegenüber saß, sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich schlage vor, dass wir dieses Thema fallen lassen.«
»Beatrice, bitte«, begann Amelia, »ich habe Grund zu der Annahme, dass sie ihr Kind verloren hat.«
»Müssen wir davon sprechen! Die Schamlosigkeit …«
»Das Kind lebt«, sagte Gareth Lamb in nüchternem Ton.
»Wie bitte?«, fragte Amelia erstaunt.
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
Amelias Herz begann schmerzhaft zu klopfen. »Wirklich? Wann?«
»Ich war letzten Montag auf einer Versammlung von Geistlichen in Crawley und fuhr am Cottage deiner Tante vorbei. Charlotte saß im
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