Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
Ihn, der an allem die Schuld trägt! Er war dort!«
Er musterte sie, ohne ihre Worte wirklich zu begreifen. Im Widerschein der überall auflodernden Flammen war ihr Gesicht faltig und schmal. Mit einem Mal meinte er, sie zu verstehen. »Cattaneo?«, stieß er hervor.
Diesmal war die Reihe an ihr, ihn verständnislos anzuschauen. Dann fiel ihr Blick über seine Schulter, und sie stieß einen entsetzten Schrei aus. »Da! Sie sind dort drüben!«
Antonio fuhr herum und sah die langsam in Richtung Norden wegtreibende Gondel. Ein maskierter Mann mit einem dunklen Umhang stand auf der für den Ruderer vorgesehenen Abdeckung am Ende des Bootes und stakte die Gondel vorwärts, mitten hinein in das Gewimmel der anderen Kähne und Flöße, die ein wenig abseits von dem brennenden Handelshaus im Kanal lagen. Etwa in der Mitte der Gondel war ein Hügel zu sehen, der im ersten Moment aussah wie ein unordentlich hingeworfener Haufen Stoff, sich aber bei genauerem Hinsehen als reglose menschliche Gestalt entpuppte.
Die ganze Szenerie am und auf dem Canalezzo wirkte im Licht der lodernden Feuersbrunst gespenstisch. Berstend und knackend fraßen sich die Flammen durch Stein und Gebälk, brachten Dächer zum Einsturz und Fässer zum Platzen. Bei all dem um sich greifenden Chaos schien es, als ginge die Welt unter und als könnten alle Menschen Venedigs zusammen es nicht verhindern, sosehr sie sich auch abmühen mochten.
»Es ist vergeblich!«, schrie ein Kaufmann nur wenige Schritte von Antonio entfernt. »Der Brand ist nicht mehr zu löschen! Alles wird verbrennen, alles! Wir sind verloren!«
Antonio überlegte flüchtig, woher er den Mann kannte, dann fiel es ihm ein. Es war der Deutsche, der damals Zeuge seiner Verhaftung geworden war. Antonio hatte später erfahren, dass der Kaufmann zu seinen Gunsten ausgesagt hatte. Rapinam non vidi hatte in den gerichtlichen Unterlagen gestanden, wie ihm einer der amtlichen Schreiber später bestätigt hatte. Ich habe keinen Raub gesehen . Geblieben war als Vorwurf folglich nur die Belästigung eines Adligen, die keine schwerere Strafe nach sich zog als diejenige, die er verbüßt hatte, zumal er sein Alter hatte nachweisen können.
»Er hat sie mitgenommen!«, schrie Crestina. »Laura! Sie ist mit ihm auf dem Boot!« Sie stieß Antonio von sich und sprang mit einer für ihre Jahre überraschenden Wendigkeit vorwärts, nur um am Rande der Fondamenta hilflos stehen zu bleiben. An dieser Seite des Kanals gab es nördlich der Brücke keinen Kai; die Häuser grenzten direkt ans Wasser.
Crestina drehte sich zu Antonio um. »Du musst ihr helfen!«
Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er sich zögernd in Bewegung setzte. Rapinam puellae vidi , dachte er, krampfhaft darüber nachsinnend, ob die Grammatik stimmte. Es war so lange her, dass er Latein gelernt hatte. Viel zu lange. Irgendwann, das stand fest, würde er seine Kenntnisse auffrischen müssen. Erfolgreiche Kaufleute konnten nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sie beherrschten auch Latein. Und die wichtigen Dialekte, die man außerhalb der Lagune sprach. Das Italienische, wie es in Rom, Genua, Mailand oder Neapel gebräuchlich war. Außerdem fremde Sprachen wie Französisch oder Deutsch, und natürlich Spanisch.
Zu wenig, dachte er. Ich kann von allem zu wenig. Ich bin groß und stark wie ein Ochse, aber fast genauso dumm. Ich werde nie einen Palast besitzen, wenn ich nicht lerne, wie ein Patrizier zu denken und zu reden.
Während ihm all das durch den Kopf schoss, fragte er sich, wieso er sich ausgerechnet in solch einem Moment über seine Sprachkenntnisse Gedanken machen konnte. Doch gleich darauf spielte das keine Rolle mehr.
Mit einem gewaltigen Hechtsprung stürzte er sich in das schwarze Wasser des Canalezzo, der jenseits des Kais wie Schlacke glänzte, übersät von einer treibenden Ascheschicht, die sich von den brennenden Gebäuden niedersenkte. Er tauchte einige Züge, bevor er prustend die Wasseroberfläche durchstieß. Arme und Beine wie Dreschflegel durchs Wasser schlagend, bewegte er sich blindlings auf die Stelle zu, wo er das Boot des Maskierten zuletzt gesehen hatte. Zu seinem Schrecken erkannte er gleich darauf, dass er es in der Menge der anderen Gondeln, die auf dem Wasser unterwegs waren, nicht ausmachen konnte. Wasser tretend rieb er sich die Augen und starrte über die dunklen Wellen. Da war es! Es hatte in nördlicher Richtung am gegenüberliegenden Ufer angelegt; der maskierte Mann war
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