Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
den Raum verlassen. Meist nicht für lange, denn es dauerte kaum je länger als eine Viertelstunde. In diesen Fällen musste Valeria den anderen einen kleinen Teil ihres Dirnenlohns abgeben, so lautete die Abmachung. Für Valeria war das kein Problem; die Männer mussten mehr bezahlen, wenn sie Intimität und Abgeschiedenheit wollten, so einfach war das.
Antonio verließ das Haus und blickte nicht zurück. Solange er nach vorn schaute, fiel es ihm leichter, sich vorzustellen, aus dem Haus zu kommen, in dem er früher gelebt hatte, und nicht aus dieser stinkenden, von Menschen berstenden Elendsunterkunft, wo in jedem Zimmer eine Familie hauste und wo ein solcher Radau herrschte, dass sogar tief in der Nacht niemals Ruhe einkehrte. Die immerwährende Geräuschkulisse aus Kindergeschrei und Hundegebell, dem Krakeelen betrunkener Männer und dem schrillen Schimpfen der Frauen störte ihn nicht mehr sonderlich. Nur in den Momenten, in denen er das Haus verließ und seiner Enge entfloh, erlaubte er es sich, an früher zu denken. Das Leben, das er und Cecilia mit der Mutter und davor mit beiden Eltern geführt hatten, lag schon so lange zurück, dass es ihm manchmal schwerfiel, sich an die Ruhe, die Freude und das Lachen zu erinnern, aber es war noch da, irgendwo, und wenn er die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte er es zurückholen. Wenn er im Freien war, gelang es ihm leichter als in der Enge des schmutzigen Zimmers, das er mit zwei Mädchen und zwei – jetzt drei – Knaben teilen musste.
Manchmal ging er an dem Haus vorbei, in dem er früher mit seiner Schwester und seiner Mutter gelebt hatte. Es lag an der Fondamenta dei Mori und war ebenfalls ein Mietshaus, aber es war kleiner und ruhiger, und sie hatten dort eine ganze Etage für sich allein gehabt, mit drei Kammern, einem Kochkamin, einer eigenen Außentreppe und einem Abtritt in einem Erker, der stets sauber gehalten wurde. Jetzt lebte eine andere Familie in ihren Räumen, Eltern mit zwei Kindern, ebenfalls einem Jungen und einem Mädchen. Der Mann war Glashändler und konnte es sich sogar leisten, seinen Sohn Mathematik und Latein lernen zu lassen, bei demselben Lehrer, der einst Antonio unterrichtet hatte.
Der Arzt, den Antonio holen wollte, hieß Priuli und wohnte im Obergeschoss eines schmalen Ziegelbaus unweit der Kirche Madonna dell’Orto. Auf Antonios Klopfen öffnete ihm die Ehefrau. Priuli erschien erst, nachdem seine Frau mehrmals an die Tür seiner Kammer geklopft und nach ihm gerufen hatte. Er war im Hemd, und seine Wangen waren vom Weingenuss gerötet. Sein Gesicht legte sich in mürrische Falten, als Antonio um ärztlichen Beistand bat, und erst, als er die Silbermünzen sah, die Antonio ihm hinhielt, fand er sich bereit, eine Tunika über seinen dicklichen Körper zu zerren und mitzugehen.
Antonio wusste, dass Priuli kein richtiger Arzt war, sondern nur ein Barbiero , der an keiner Universität studiert hatte und seine Erfahrungen hauptsächlich durch praktische Übung am kranken Menschen gewonnen hatte. Viele Barbieri waren indessen nicht schlechter und nicht besser als die gelehrten Medici, die in Padua Anatomie studiert hatten, obwohl es unter den regulären Ärzten einige gab, deren überragende Heilkünste unbestritten waren. Zumeist waren es Juden, die unter all den gemeldeten Ärzten die besten waren und im Gegensatz zu ihren Glaubensgenossen das Privileg besaßen, in der Stadt leben zu dürfen und nicht einmal den gelben Hut tragen zu müssen. Einen solchen Arzt hätte Antonio gern für seine Schwester geholt, doch er wusste, dass er in seinem ganzen Leben noch nicht so viel Geld besessen hatte, wie er dafür brauchen würde.
Priuli bestand darauf, dass Antonio ihm den Lohn im Voraus aushändigte, als er das Haus sah, in dem die Patientin wohnte. Er verzog angewidert das Gesicht, als er hinter Antonio die verdreckte Treppe in den vierten Stock hochstieg, und als sie das schmale, nur spärlich von einer Kerze erhellte Zimmer betraten, presste er sich einen Zipfel seines Gewandes vor Mund und Nase. Antonio, der sich an den dumpfen Gestank längst gewöhnt hatte, sah ihm dabei zu und fühlte Wut in sich aufsteigen. Am liebsten hätte er Priuli die Treppe hinabgestoßen oder ihm in sein feistes Gesicht geschlagen.
Tatsächlich roch es jedoch in der Kammer schlimmer als sonst, nach Exkrementen, Alkohol – und nach durchdringender, männlicher Erregung, eine ziegenartige Ausdünstung aus Schweiß, scharfem Moschus und einer
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