Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
ihres Vaters schon etliche Palazzi gesehen. Vermutlich hatte ein herausragender Architekt dieses noch recht neue Haus geschaffen, aber sie verschwendete kaum einen Blick auf die Bauweise, sondern betrachtete stattdessen sprachlos die Fresken. Einen Moment lang glaubte sie, ein Werk ihres Vaters vor sich zu haben, doch bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass die Fresken nicht von ihm stammen konnten. Guido Monteverdi war ein großer Künstler gewesen, und es gab nicht mehr als eine Hand voll wirklich gute Freskenmaler in Venedig. Dennoch waren diese Bilder hier besser als alles andere, was sie bisher gesehen hatte. Ihnen fehlte das Spielerische, die gewollte Naivität und die unbekümmerte Farbwahl, die für Guido Monteverdis Arbeiten kennzeichnend gewesen waren. Die Abbildungen an diesem Palazzo schienen nicht Freude und Lebenslust zu verströmen wie die Fresken ihres Vaters, sondern waren von einer beinahe mystischen Eindringlichkeit, dabei aber gleichzeitig von einem solchen Farbenreichtum, wie er sonst nur in der Natur selbst vorkam. Laura glaubte, im schwindenden Licht der untergehenden Sonne eine biblische Szene ausmachen zu können – die Vertreibung aus dem Paradies.
Bevor sie sich Details ansehen konnte, glitt die Gondel durch das Wassertor ins Innere des Palazzo. Das Wasser des Kanals gluckerte an den Mauern, die das Ende der Einfahrt markierten und über denen das Andron lag, die Wasserhalle im unteren, zum Kanal hin gelegenen Teil des Hauses. Geradeaus führten steinerne Stufen von der Wasseroberfläche hinauf auf eine umlaufende Balustrade. Oben auf der Brüstung brannten Fackeln; ihr Licht erzeugte huschende Muster an den Ziegelwänden und auf dem gefliesten Boden. An den Wänden hingen Piken und Hellebarden sowie Flaggen feindlicher Heere, offenbar Beutestücke aus einem der letzten Kriege.
Es roch nach Tang, Rauch und einer Mischung aus Parfüm und orientalischen Gewürzen, die Laura bisher zu selten in die Nase gestiegen war, als dass sie genau hätte feststellen können, welche Aromen darunter waren. Von irgendwoher drang auch der Duft nach gebratenem Fleisch zu ihr, der ihr sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
»Da sind wir«, sagte Arcanzola. Sie war aufgestanden und ließ sich von dem Gondoliere auf die Stufen helfen, bevor sie sich wieder zu Laura umdrehte und die Hand ausstreckte, um sie ebenfalls aus dem Boot zu ziehen.
»Wer wohnt hier?«, wollte Laura wissen.
Arcanzola lächelte und raffte ihr Gewand, während sie die Stufen zum Andron hinaufstieg. »Dein neuer Vater.«
Laura hatte Mühe, richtig zu atmen, während Arcanzola sie an der Hand aus dem Wassersaal durch eine Tür zog, hinter der eine Treppe in das Mezzanin führte. Sie war so aufgeregt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Hinter der Nonne herstolpernd, erhaschte sie einen Blick in eine Küche. Vor einem großen Kochkamin mit Rauchfang stand eine Magd und rührte in einem Suppenkessel. Daneben brutzelte Fleisch in einer Pfanne. In einem irdenen Topf garte ein Milchgericht, dem ein süßer Duft nach Vanille entströmte. Laura wäre fast in die Knie gesackt vor Hunger. Am liebsten hätte sie der Köchin den Löffel entrissen und sich über die Töpfe hergemacht.
An einem steinernen Wassertrog neben der Feuerstelle wusch eine weitere Magd Geschirr, und an der großen Anrichte war eine dritte Bedienstete damit beschäftigt, Gemüse klein zu schneiden. Zwei andere Mägde standen an einem Tisch, wo sie Teigstücke kneteten, auswalzten und mit einer Füllung bestrichen.
Laura starrte im Vorbeigehen hungrig auf die Töpfe, dann verharrte sie mitten im Schritt. Die Frau an der Anrichte hatte den Kopf zur Seite gewandt. Es war Lodovica.
»Was ist?«, sagte Arcanzola. »Komm weiter, unser Gastgeber wartet schon. Essen kannst du später, ich verspreche es dir.«
»Ich will zu Matteo!« Laura riss sich von der Hand der Nonne los und rannte in die Küche.
»Komm weiter, sage ich!«, rief Arcanzola herrisch.
Laura tat einfach so, als hätte sie den Befehl nicht gehört. Um nichts in der Welt hätte sie sich davon abhalten lassen, die Küche zu betreten, denn soeben hatte sie die Stimme ihres Bruders gehört.
»Matteo!«, rief sie glücklich aus. Er war tatsächlich hier! Arcanzola hatte sie nicht belogen!
In einer Ecke der Küche saß er auf dem Fußboden und war mit einem breiten Leinenstreifen um den Bauch an einem Schemel festgebunden, damit er nicht in die Nähe des Herdes kriechen konnte. Er hielt
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