Die Lanze des Herrn
sie ziehen wie einen Traum, der vergeht. In Staubwolken eingehüllte Esel trotteten langsam durch die Straße, und ab und an hupte ein alter kleiner Lieferwagen, der sich mit seinem knatternden und spuckenden Motor mutig ins Gedränge gewagt hatte, um sie vorwärts zu scheuchen. Judith ging schaukelnden Karren und Jugendlichen auf alten Rädern aus dem Weg und kam an feilschenden Touristen vorbei.
Dicht an dicht lagen kostbare Teppiche neben bestickten Stoffen. Handwerker bearbeiteten Holz, Kupfer, Elfenbein oder Perlmutt. Vor den Augen der Passanten entstanden Kostbarkeiten. In fröhlichem Durcheinander wurden Lederwaren feilgeboten.
Nach etwa dreihundert Metern blieben die beiden Männer stehen und wiesen auf die Tür eines Ladens mitten im Chaos des Khans. Schon am Eingang stolperte man beinahe über die vielen Wasserpfeifen, bunten Papierschlangen, Küchenutensilien, Berge von Handtüchern, Tischsets, Tischtüchern und orientalischen Deckchen neben Tabletts und Körben. In der drangvollen Enge herrschte eine unglaubliche Unordnung. Links auf Regalen, die der Schwerkraft zu trotzen schienen, standen Nippsachen und Parfümflakons mit Namen wie Wüstengeheimnis, Grüne Oase, Dünenduft oder Pyramidenpracht, mit denen angeblich schon die Mumie der Kleopatra und anderer Pharaonen einbalsamiert worden waren. Teppiche mit Motiven, die an Rosetten in Kathedralen erinnerten, hingen von der Decke herab. Man musste sie beiseiteschieben, um tiefer ins Innere dieses Kuriositätenkabinetts vorzudringen. Von der Straße drang die Hitze, gemischt mit Abgasen und Staub herein. Auf einem rotgoldenen Sitzkissen saß mit unbedecktem Haupt, mattem Teint und großem Schnurrbart Chaled Aziz Muhammad, Sohn von Kamel Aziz Muhammad und Enkel von Ahmed Aziz Muhammad in einer makellos weißen Djellaba und hielt eine brennende Zigarette in der Hand, ohne sich von der bunt bemalten alten Gasflasche in seiner unmittelbaren Nähe stören zu lassen. Auf dem Bildschirm eines vorsintflutlichen Fernsehers flackerte knisternd eine Sportsendung. Als der Ladeninhaber den Agenten des Mossad und die junge Frau, gefolgt von Anselmo, der das Durcheinander mit seiner üblichen Fassung betrachtete, den Laden betreten sah, stand er auf. Er bedachte Judith mit feurigem Blick, doch beim Anblick Harry Milchans verdüsterte sich seine Miene.
»Ist er noch da?«, fragte der Agent.
Chaled nickte ernst.
»Danke«, erwiderte der Israeli.
Er reichte dem Ladenbesitzer einige Banknoten. Chaled wandte sich um, schob einen Segeltuchvorhang beiseite, hinter dem ein enger, dunkler Flur lag. Anselm forderte Judith auf, ihn zu betreten. Die Kühle war ein Segen, aber die junge Frau war nervös. Sie berührte die Stirn mit der Hand. Harry Milchan zog sich zurück und nahm seinen Wachposten am Ladeneingang ein, in der Nähe des Fernsehgeräts.
Der zwei Kopf kleinere Chaled blickte zu ihm auf. Er wagte ein Lächeln.
»Na, geht´s gut?«
Schweigend nickte der Agent.
»Pfefferminztee, Bruder?« Harry Milchan, den die Waffe unter seiner Jacke störte, legte die Hände zusammen. Als die Antwort ausblieb, setzte sich Chaled wieder auf sein Sitzkissen, nahm sein Glas, bereitete sich eine Wasserpfeife und sah den Besucher erwartungsvoll an.
»Inschallah«, sagte er schließlich und hob sein Glas.
Der Agent begnügte sich damit, ihm zuzunicken.
Am Ende des Flurs angekommen, betrat Judith einen kleinen düsteren Raum, der von einer schlichten Lampe beleuchtet wurde. Damien Seltzner saß auf einem Sitzkissen. Sein Gesicht lag im Schatten. Judith kniff die Augen zusammen und trat ein paar Schritte vor. Nun fiel Licht auf den Archäologen. Ihr erster Eindruck war, dass seine Gesichtszüge markanter waren und er unsympathischer wirkte als auf dem Foto. Er saß leicht vornübergebeugt und hob gerade seinen Löffel an den Mund. Der Ägypter hatte ihm ein üppiges Mahl servieren lassen, ein kluger Schachzug, um ihn möglichst lange aufzuhalten. Vor dem Archäologen stand eine riesige Schüssel mit Couscous, um sie herum waren Schalen mit Bohnen, Kichererbsen, Gemüse und Fleisch aufgestellt.
Beim Anblick Judiths und ihres Leibwächters hielt der Archäologe in seiner Bewegung inne. Unruhe blitzte in seinen Augen auf. Sein Hut lag nicht weit von ihm entfernt. In der Tasche seines beigefarbenen Hemds steckte ein Päckchen Cleopatra-Zigaretten. Judith bemerkte, dass er ein kleines Silbermedaillon mit einem Freimaurer-Symbol um den Hals trug. Ein Auge in einem Dreieck. Sie biss die
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