Die Lauscherin im Beichtstuhl - Die Lauscherin im Beichtstuhl
folgen.
»Betrachtet es als eine Art Beichte, Jungfer Kristin. Was immer Ihr mir erzählen wollt, bleibt sub rosa .«
»Danke, Pater Melvinius. Es ist manchmal recht anstrengend, sich zu verstellen und immer auf jedes Wort achten zu müssen.«
»Ihr lügt nicht gerne, Jungfer Kristin. Einem aufrichtigen Menschen fällt das Gaukelspiel immer schwer. Also muss Euch eine gewissen Not dazu getrieben haben, habe ich Recht?«
»Ja, Pater. Seht, unser Vater war ein großer Künstler.«
»Meister Kornelius, ich weiß.«
»Clemens und ich sind Zwillinge. Wir kamen anno 1475 zur Welt, und seit wir Stift und Pinsel in den Händen halten konnten, hat uns unser Vater unterwiesen. Es war uns nie eine Last, Pater, denn er war ein wunderbarer Lehrer. Aber es zeigte sich sehr früh, dass wir ganz unterschiedliche Talente haben. Und es zeigte sich auch, dass Clemens von Geburt an an einem fatalen Mangel litt – er kann bestimmte Farben nicht sehen. Rot und Grün erscheinen ihm beide als Grautöne. Damit ist ihm natürlich der Beruf des Malers verwehrt. Doch auf der anderen Seite hat er eine natürliche, ja beinahe übernatürliche Begabung für alles, was Perspektive, aber auch Statik und Raumgestaltung anbelangt. Sein größter Wunsch ist es, Gebäude zu entwerfen. Ich hingegen tue mich da schwer. Ich habe das Handwerk zwar erlernt, aber ich brauche viel Zeit und viele Versuche, um eine winkelgerechte Ansicht zu entwerfen. Dafür habe ich aber ein gutes Farbgefühl und kann auch recht gut aus dem Gedächtnis malen.«
»Sehr richtig. Die Gesichter habt dann Ihr gemalt, und sie sind auf das Akkurateste getroffen. Wie kommt es, dass Euer Bruder sich seinen Wunsch nicht erfüllt und als Baumeister arbeitet?«
»Er hat schon seine Lehrzeit bei verschiedenen Meistern absolviert, die alle voll des Lobes für seine Arbeit waren, doch unsere Mutter war in ihren letzten fünf Lebensjahren sehr leidend. Sie starb vor drei Jahren. Unser Vater hat seine gesamten Ersparnisse für Ärzte und Kuren ausgegeben und sogar Schulden gemacht. Er liebte sie sehr und hoffte immer, sie würde die Krankheit besiegen. Es half nicht, und wirdenken, aus Gram über ihren Tod folgte er ihr ein halbes Jahr später nach.«
»Das tut mir Leid, Kristin. So habt Ihr alles verloren.«
»Unsere Eltern, unser Haus und alles Geld. Nur unser Talent – und den guten Namen Hendrykson – hatten wir noch. Es gab eine ganze Reihe freundlicher Menschen, die darauf vertrauten, Meister Clemens sei in der Lage, die Arbeit seines Vaters genauso gut durchzuführen wie er früher. Mein Bruder bekam einige gut bezahlte Aufträge. Wir konnten sie nicht ablehnen, denn wir brauchten das Geld, das wir dafür bekamen, damit wir überhaupt überleben und die Schulden abbezahlen konnten. Solange es Arbeiten waren, die wir in einem Atelier durchführen konnten, war das keine Schwierigkeit. Clemens machte die Skizzen, ich machte die Farbarbeiten. Aber dann erhielten wir erstmals das Angebot, ein Fresko in einer kleinen, privaten Kapelle zu gestalten. Es sollte eine gute Summe dafür geben. Wir überlegten uns, wie wir es bewerkstelligen konnten, ohne dass man unsere geteilte Arbeit bemerkt. Es war schließlich meine Idee. Clemens und ich sehen uns sehr ähnlich. Er ist nur wenig größer und trägt sein Gesicht glatt rasiert. Ich opferte also meine Haare, schneiderte mir Hosen und Wams und wurde zeitweise Meister Clemens.«
»Sehr nützlich, diese Ähnlichkeit!«
Melvinius schmunzelte, und Kristins Körper fühlte sich wieder etwas entspannter an. Sie kraulte sogar geistesabwesend meinen Nacken.
»Es ging einige Male sehr gut. Während ich die Farbaufträgemache, entwirft Clemens zu Hause die Bildkompositionen und überträgt sie maßstabsgerecht auf die Kartons, die wir dann hier verwenden. Es ist sogar ein sehr praktisches Vorgehen, denn so kann ich hier sehr zügig arbeiten. Wenn Clemens an dem Fresko malt, übernimmt er immer die Bereiche, die ohne Grün oder Rot auskommen – Säulen, Himmel, Mauern, Böden und so weiter.«
»Ich verstehe die Notwendigkeit, auf diese Weise zu arbeiten, doch ich verstehe noch nicht, warum Ihr ein Geheimnis daraus macht, Jungfer Kristin.«
»Pater Melvinius, glaubt Ihr, Euer Abt hätte mir als Frau erlaubt, in Eurem Kloster zu arbeiten?«
Melvinius schwieg, und ich spürte, dass er betroffen war.
»Nein, vermutlich nicht. Es hatten sich auch andere Maler um die Ausgestaltung der Basilika beworben. Vermutlich hätte er sich für einen von
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