Die Lebenskünstlerin (German Edition)
Aufgrund seiner genauen Beschreibung kann ich sie kaum verfehlen.
Auf der betreffenden Bank sitzt schon jemand: Bernd?
Beim Näherkommen erkenne ich die Merkmale, die er mir beschrieben hat. Er scheint mich noch nicht wahrgenommen zu haben.
Langsam, und ihn dabei musternd, gehe ich auf die Parkbank zu.
Er wirkt ziemlich groß, braune füllige Haare, kantiges Gesicht, soweit ich sehen kann. Denn er trägt eine verhältnismäßig große, dunkle Sonnenbrille. Braune Lederjacke, gepflegte bequeme Schuhe. Alles in Ordnung soweit.
Mit einem fröhlichen Hallo mache ich mich bemerkbar, er sieht kaum auf und bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen, ohne dass er aufsteht.
Das ist ein eindeutiges Minus auf seiner Liste. Ich finde es unhöflich. Dann fragt er, ob ich gut hergefunden habe und nimmt noch nicht mal die blöde Brille ab. Ich hasse es, wenn sich jemand hinter einer dunklen Brille versteckt. Grauenhaft. Prolet.
Schade, aber irgendwas an seiner Art stößt mich sogleich ab. Ich kann es nicht beschreiben. Nach den Höflichkeitsfloskeln fragt er mich systematisch aus, immer den Blick nach vorne zum Teich gerichtet.
Wie viele Beziehungen ich schon hatte, wo und was ich arbeite, ob ich Kinder hätte, wie ich mir meine Zukunft vorstelle, ob ich einen Partner im Stich lassen würde, wenn er krank wäre.
Ich weiche seinen Fragen aus. Allmählich bin ich überfordert. Was will der drakonische Typ von mir? Ich fühle mich zunehmend unwohl.
„Dein detektivisches Ausfragen nervt“, zische ich patzig und enttäuscht dem bebrillten Sherlock Holmes entgegen.
Er versucht zu erklären. Wir hätten doch schon alle schlechte Erfahrungen gemacht und seine Exfreundin hätte ihn so gemein im Stich gelassen.
„Wie lange ist das her?“, werfe ich gelangweilt ein.
„Neun Jahre“ stöhnt er auf. Diese beiden Wörter bringen seine noch immer währende Verletzlichkeit deutlich zum Ausdruck.
Er hat eine Augenkrankheit, deswegen trägt er eine Brille und führe einen Blindenstock mit sich. Ach, jetzt entdecke ich den auch. Meine Beobachtungsgabe scheint in seinem Fall lahm zu liegen.
Erschöpfend erklärt er mir sein Leiden. Von dem düsteren Weltschmerz war in seinen aufregenden Kurznachrichten nichts zu spüren.
Mein blindes Blind-date rattert rücksichtslos die ganze Geschichte seiner umfangreichen Anamneseerhebungen runter und listet stur alle absolvierten, und eventuell noch ausstehenden, Untersuchungen auf. Detailverliebt schildert er letzten Endes noch die möglichen Erfolgsquoten bei den unterschiedlichsten Behandlungsmethoden.
Er identifiziert sich anscheinend so arg mit seinen Krankheiten und seinem Elend, dass er darüber hinaus als Persönlichkeit verschwunden ist.
Er labert und labert. Und hört gar nicht mehr auf zu labern. Ich sitze stumm da und lasse alles kommentarlos über mich ergehen. Er ist nicht nur sehbehindert, sondern auch gefühlsblind. Und ich gebe Unsummen für diverse Pickelabdeckstifte aus. Und für dieses sündhaft teure Kleid. Was mache ich hier eigentlich?
Ich giere immer noch nach ein wenig Liebe, Anerkennung, Bewunderung.
Doch der Typ neben mir erzählt unbeirrt von seinen Krankheiten und lamentiert über die abscheuliche Exfreundin, die ihn vor genau neun Jahren so böswillig verlassen habe.
Seither hätte er kein Vertrauen mehr zu Frauen. Sie wären doch alle gleich. Gemein und niederträchtig. Bla-bla-bla.
Ich mag nicht mehr zuhören.
Eine große Müdigkeit breitet sich in mir aus. Sie führt zur nüchternen Selbstreflektion: Ständig suche ich in einem Mann das, was mir so sehr fehlt.
Dabei treffe ich auf Männer, die selbst gerettet werden möchten. Die ihre Vergangenheit ebenso mit sich herumtragen und damit hausieren gehen. Oder sie verdrängen - wie ich?
Wie betäubt und unsagbar ausgelaugt sitze ich in der lauen Abendsonne und will nur noch weg. Anscheinend gibt es keinen Prinzen auf einem schmucken, weißen Ross, der mir mein Fehlendes ausgleicht und mich rettet.
Neben mir sitzt ein Häufchen Elend und jammert vor sich hin. Abscheulich offenbart sich hier das blanke Leid, welch eine Armseligkeit.
Genervt hake ich nach: „Hast du schon einmal erlebt, dass sich eine schwierige Situation in deinem Leben durch Jammern, Hadern, Ärgern oder Vorwürfe zum Positiven verändern lässt?“ Er begreift nichts. Wie denn auch, ich lebe ja auch nicht danach.
Ich weiß, ich muss endlich anfangen, mir selbst die Aufmerksamkeit und Achtung zu geben, die mir fehlt und
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