Die Lebküchnerin
dessen Augen steckte noch so viel Lebenskraft, dass Julian sich seinen nahenden Tod nicht vorstellen konnte.
»Ich habe deiner Mutter geschworen, dir niemals die Wahrheit zu sagen, aber so kann ich nicht vor dem Jüngsten Gericht erscheinen, denn ich habe gesündigt. Und ich möchte nicht in der Hölle schmoren. Du musst mir nur eines schwören: Sag es Konstantin nicht. Er vergöttert dich, seinen großen Bruder, den tapferen Fechtmeister.«
Julian lief es heiß und kalt den Rücken hinunter.
Emmerich lachte höhnisch, bevor er weiterredete, ohne Julian anzusehen. »Deine Mutter und ich, wir versuchten lange Jahre, einen Erben zu bekommen, doch vergeblich. Und da geschah das Unfassbare. Deine Tante Leonore trug die Frucht der Sünde unter ihrem Herzen. Sie wollten heiraten, nachdem ihr Ritter vom Kreuzzug gegen Alexandria zurückgekehrt war, doch er wurde auf dem Weg zum Treffpunkt in Venedig gemeuchelt. Als wir Leonore die Nachricht überbrachten, offenbarte sie ihren Eltern, was geschehen war. Da hatte deine Großmutter den Einfall, Leonores Kind als das deiner Mutter auszugeben und Leonore ins Kloster zu schicken. So geschah es dann. Deine Großmutter war eine mächtige Frau. Auf keinen Fall wollte sie ein Bankert in ihrem Hause dulden. Gegen Leonores Willen nahmen wir ihr den Jungen noch im Wochenbett weg und machten ihn zu unserem Kind. Deine Mutter hat den Jungen wie ein eigenes Kind geliebt, auch als wir dann doch unseren Erben bekamen. Ich habe es jedoch nur meinem Weib zuliebe getan. Vom ersten Tag an habe ich verflucht, mich schuldig gemacht zu haben. Und du hast mich immer daran erinnert, dass ich ein fremdes Balg großziehe, das mir so gar nicht ähnlich ist. Wie auch? Du warst mir von Anfang an ein Dorn im Auge, und ich habe mir oft gewünscht, man hätte dich früh in ein Kloster gegeben. Das aber wollte mein geliebtes Weib nicht und …« Er unterbrach seine lange Rede und erlitt einen Hustenanfall.
Julian hatte das Gefühl, dass sich ein Feuer durch seine Eingeweide fraß, das alles vernichtete. Ihm war, als müsse er sich gleich erbrechen. Und er hätte es sicher auch getan, wenn in diesem Augenblick der Kopf des alten Emmerich nicht leblos zur Seite gesackt wäre.
»Vater?«, fragte Julian, aber er bekam keine Antwort mehr. Dieser Mann, der niemals sein Vater gewesen war, war tot. Julian empfand keine Trauer. Sein Herz war wie versteinert. Er hatte nur noch einen Gedanken: weg von hier, weit weg!
Wie betäubt erhob er sich von dem Schemel. Selbst den wunden Rücken spürte er nicht mehr, so sehr hatte der innere Schmerz von ihm Besitz ergriffen. Taumelnd verließ er die Kammer. Vor der Tür geriet er ins Wanken, und Konstantin fing ihn gerade noch rechtzeitig auf.
»Ist er tot?«, fragte Konstantin atemlos.
Julian nickte. Seine Gedanken aber waren weit weg von jenem Mann, der soeben von ihnen gegangen war. Hätte ich geahnt, dass ich Tante Leonores Geheimnis bin …, schoss es ihm durch den Kopf.
Es war alles so schrecklich verwirrend. Julian merkte gar nicht, dass Konstantin ihn zu einem Stuhl im großen Festsaal geleitet hatte und dann ans Totenbett des Vaters geeilt war.
Julian fühlte sich wie betäubt. Und doch musste er sich der ungeheuerlichen Wahrheit stellen. Deshalb hatte die Priorin Benedicta also zur Flucht verholfen … Benedicta? Er hatte sie heiraten wollen, aber jetzt sah alles anders aus. Wie sollte er ihr jemals wieder unter die Augen treten, ohne ihr die ganze Wahrheit zu offenbaren? Dass er das Bankert einer Nonne war. Nein, er brauchte Zeit, um zu begreifen, dass sein ganzes bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen war. Bei dem Gedanken, dass ihm alle – seine Mutter, sein Vater, seine falsche Muhme – so frech ins Gesicht gelogen hatten, wurde ihm abermals schlecht, und er erbrach sich in hohem Bogen auf das Holz des Fußbodens.
Julian wollte nicht eine Nacht länger in dieser Burg bleiben. Er schaffte es, aufzustehen und sich in seine Kammer zu schleppen. Dort packte er das Nötigste zusammen.
»Julian, was tust du da?«, riss ihn die entrüstete Stimme des Bruders wenig später aus seinen Gedanken. »Leg dich sofort wieder hin!«
Als Konstantin Julians aschfahles Gesicht sah, konnte er die drängende Frage, was der Vater ihm wohl Schlimmes gesagt habe, nicht länger zurückhalten.
Einen winzigen Augenblick lang überlegte Julian, was er tun sollte, aber dann blickte er in die Augen seines Bruders, in jene treuen Augen, die ihn nie betrogen hatten. Auch er
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