Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
haben, niemanden mehr einschüchtern und keine Gaunereien mehr begehen zu können.
Jetzt hörten sie bloß noch auf Malum. Die anderen Anführer zogen den Schwanz ein, denn für sie war es nutzlos, gegen diese bissige Gang zu opponieren. Widerwillig hatte das Militär Waffen und Rüstung an sie ausgegeben – und auch das nur, weil ihr Gesinnungswandel im Interesse aller war. Außerdem war es nicht ihre Stadt, nicht ihr Revier. Es hatte immer den Banden von Villiren gehört, und Malum wollte, dass es so blieb.
Ihm war vage bewusst, wie mächtig er geworden war, doch selbst das zählte nicht. Er war ein gebrochener Mann, und es war ihm egal, ob er ums Leben kam. Menschen, die den Tod fürchteten, besaßen meist etwas, das sie nicht verlieren wollten. Gut möglich, dass viele Bloods ebenso empfanden, denn eigentlich hatten sie nur eins besessen, nämlich die Gang. Und jetzt würden sie alles für ihn tun.
Er wusste nicht, wie es geschehen war, doch seitdem er all die Menschen im Untergrund gesehen hatte – vor allem die Kinder mit ihren gequälten Gesichtern und ihrer dürftigen Zukunft – , hatte er seine Wut auf die Wesen zu richten vermocht, die die Stadt angriffen.
Auf die Okun und die rothäutigen Rumel.
Fiese Relikte, verbotene Klingen, geächtete Gifte – die Banden nutzten jedes schändliche Mittel, dessen sie habhaft wurden. Archaische Strukturen ohne übergeordneten Anführer bildeten sich (trotz der Ehrerbietung Malum gegenüber), erstaunlich gut organisierte, raue, aber selbstgenügsame Kampftrupps, die keinerlei Anleitung durch Kaiserliche Soldaten bedurften. Einige primitive, barbarische Gestalten waren in ihrem Element und konnten endlich nach Herzenslust töten. Die Freiheit, mit der sie sich nun bewegten, hatte etwas seltsam Poetisches.
Während die Okun instinktiv wussten, was kam, waren die rothäutigen Rumel leichter zu erwischen. Anders als ihre Verbündeten kämpften sie nicht wie ein Mann, und so konnten die Gangs ihre Spähtrupps mühelos zur Strecke bringen.
Nur mit Messer und Armbrust bewaffnet, schritt Malum seinen Männern nach, bis sie ihre Gegner vor einer alten Fabrikmauer eingekreist hatten. Er drängte mit gebleckten Fängen vor und weidete sich an der Angst in ihren schwarzen Augen, während Armbrustbolzen die Rumel bei jedem Versuch zu fliehen trafen.
Schließlich schnitt er ihnen die Kehle durch und stieß ihnen das Maul in den Hals, um ihr Blut zu trinken.
In der dritten Nacht, in der die Gangs an den Gefechten beteiligt waren, befreite ein verrücktes Genie alle von den Orden für den Kampf im Ring erschaffenen Ungeheuer aus ihren Zellen, und seine Gefolgsleute trieben sie durch die engen Gassen auf die Angreifer zu. Die Gleichzeitigkeit, mit der die Feinde handelten, schreckte die Mischwesen ganz und gar nicht. Da sie weder Angst noch Schmerz empfanden, kannten diese Ungeheuer kein Zögern.
Weit über zwei Meter große, vielgliedrige Geschöpfe mit dicker, glänzender Schuppenhaut und blitzenden Reißzähnen stürzten sich auf Rumel und Okun. Sie stießen in alle Straßen vor, die zu durchstreifen ihnen gefiel, und machten sich mit tödlicher Wut bis tief in die Nacht über die Invasoren her.
Malum und die übrigen Bandenchefs sahen von ferne zu, wie ihre Gangs ganze Mietskasernen beschlagnahmten, und bald hieß es, einige davon gehörten nun nicht länger zum Kaiserreich.
Schon am nächsten Tag waren sie als autonome Zonen ausgewiesen, als Freibeutergebiete. Die erste dieser Inseln lag mitten im Stadtteil Salzwasser, und von dort ließen sich viele Kämpfe gut beobachten. Am nächsten Tag wurden ganze Straßenzüge in Narbenhaus, die zuvor von den Feinden besetzt worden waren, ebenfalls zu autonomem Gebiet erklärt – genau wie Rückeroberungen in Shanties, Allmende und dem Brachland, die sich kilometerweit an der Küste hinzogen.
Dieses neue Gebiet würde keinen Kaiser haben.
KAPITEL 48
E in Stück hinter der Front suchte Nelum einmal mehr Priester Pias in der Jorsalirkirche auf, wo es stark nach Weihrauch und Geschichte roch. Dies einzuatmen, spendete ihm großen Trost und nahm den Druck des Krieges von ihm. Hier mochte er einen Moment gesegneter Stille finden.
Einige Tage voller Gefechte waren vergangen, doch der Priester war noch immer da, entzündete die Kerzen vor den prächtigen Wandteppichen im Altarraum und flüsterte Verse vor sich hin.
Der alte Mann sah sich um, als er Nelums Stiefel über die Marmorfliesen schlurfen hörte. »Ah, mein heiliger
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