Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
ist das dieselbe Frage, die jeder Einwohner von Syltport heute nach dem Nebel gestellt hat. Ich leide, mein närrischer Freund, weil sie gelitten haben. Weil ich König bin. Doch überdies, weil ich ein Mensch bin und Zeuge des Schrecklichen war. Was, wenn jeder Mensch in den Sechs Provinzen zu sich sagte: ›Nun, das Schlimmste ist ihnen bereits widerfahren. Weshalb sollte ich meine Mahlzeit und mein warmes Bett aufgeben, um mich darum zu kümmern?‹ Narr, bei dem Blut in meinen Adern, dies ist mein Volk. Leide ich heute nacht mehr, als sie es getan haben? Was sind Schmerz und Unbehagen eines Mannes, verglichen mit dem, was in Syltport geschah? Weshalb sollte ich mich schonen, während meine Untertanen abgeschlachtet werden wie Vieh?«
»Aber ich brauche nicht mehr tun, als Prinz Veritas zwei Worte ins Ohr zu sagen.« Der Narr ärgerte mich mit seinem Starrsinn. »›Korsaren‹ und ›Syltport‹, und er weiß alles, was zu wissen nötig ist. Laßt mich Euch zu Bett bringen, Hoheit, und dann werde ich mit diesen Worten zu ihm eilen.«
»Nein.« Schmerz breitete sich wie eine Wolke in meinem Kopf aus und verdunkelte meine Gedanken, doch ich behauptete mich. Ich zwang meinen Körper, zu dem Sessel neben dem Kamin zu gehen, und ließ mich schwerfällig in die Polster sinken. »Ich habe meine Jugend damit verbracht, die Grenzen der Sechs Provinzen gegenüber jedem zu behaupten, der sie mir streitig machen wollte. Soll mein Leben jetzt zu wertvoll sein, um es aufs Spiel zu setzen, wo nur mehr so wenig davon übrig und dieses Wenige mir von Schmerzen vergällt ist? Nein. Auf der Stelle geh und bringe meinen Sohn zu mir. Er soll für mich Weitsehen, da meine eigene Kraft für diese Nacht verbraucht ist. Gemeinsam werden wir bedenken, was wir sehen, und entscheiden, was zu tun ist. Geh nun. GEH!«
Die Füße des Narren tappten über den Steinfußboden, als er aus dem Zimmer lief.
Ich war allein mit mir selbst. Allein? Ich legte die Hände an die Schläfen und fühlte, wie ein schmerzliches Lächeln mein Gesicht verzog, als ich mich entdeckte, den Gast. Sieh an, Junge. Da bist du ja. Mein König richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Er war müde, doch er spürte mit seiner Gabe nach mir und berührte sacht mein Bewußtsein. Ich kam ihm unbeholfen entgegen, um das Band zu knüpfen, doch es mißlang. Unser Kontakt zerfaserte, zerschliß wie alter Stoff. Dann war er fort.
Ich kauerte allein auf dem Boden meines Schlafgemachs im Bergreich, unmittelbar vor dem Kaminfeuer. Ich war fünfzehn, und mein Nachtgewand war aus schlichtem weißen Leinen. Das Feuer war heruntergebrannt. Meine versengten Finger pochten zornig. Die Vorboten heftiger Kopfschmerzen, Folge der Gabe, pulsierten hinter meiner Stirn.
Ich erhob mich langsam, bedächtig. Wie ein alter Mann? Nein. Wie ein junger Mann, der noch nicht vollständig genesen war. Ich kannte jetzt den Unterschied.
Mein weiches, sauberes Bett lockte, wie ein weiches, sauberes Morgen.
Ich verzichtete auf beides. Ich setzte mich in den Sessel am Kamin und schaute sinnend in die Flammen.
Als Burrich im ersten Morgenlicht kam, um mir Lebwohl zu sagen, war ich bereit, mit ihm zu reiten.
KAPITEL 2
DIE HEIMKEHR
Bocksburg erhebt sich über dem besten Tiefwasserhafen in den Sechs Provinzen. Im Norden ergießt sich der Bocksfluß ins Meer, Haupthandelsweg für den größten Teil der aus den Inlandprovinzen Tilth und Farrow ausgeführten Waren. Lotrechte schwarze Klippen sind der Hochsitz, von dem aus die Burg der Könige der Sechs Provinzen auf die Flußmündung, den Hafen und die weite See hinunterschaut.
Die Hütten und Häuser von Burgstadt zogen sich die Felsen hinan, in sicherer Entfernung von der Überschwemmungsebene des großen Stroms, um den Hafen zu einem großen Teil auf Stegen und Kais erbaut. Ursprünglich war die Festung eine Palisadenanlage gewesen, von den Einheimischen als Verteidigungsstellung gegen Raubzüge der Outislander errichtet. Einer dieser Piraten von den Fernen Inseln, Nehmer, eroberte die Burg und machte sich zum Herren der Gegend. Er errichtete anstelle der Palisaden und Holzbauten Mauern und Türme aus dem schwarzen Stein der Klippen und verankerte die Fundamente von Bocksburg tief im Fels. Mit der folgenden Generation des Hauses Weitseher wurden die Mauern weiter befestigt, die Türme höher und massiver. Seit Nehmer, dem Gründer des Hauses, ist Bocksburg nie wieder in Feindeshand gefallen.
Schnee berührte federleicht mein Gesicht, Wind blies
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