Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
idealistischen Vorstellungen eines jungen Mädchens. Doch Ihr hattet recht. Wir haben hier kein Wort dafür, aber der Gedanke ist derselbe. Ich habe es von meinen Eltern gelernt, das Wohl der Sechs Provinzen stets über mein eigenes zu stellen. Lange war ich überzeugt, demgemäß zu handeln, aber nun sehe ich, daß es immer andere waren, die statt meiner hinausgehen mußten. Ich habe von der Gabe Gebrauch gemacht, das ist richtig, und Ihr wißt, was es mich gekostet hat, aber es waren Seeleute und Soldaten, die hinausgeschickt wurden, um ihr Leben für die Sechs Provinzen zu geben. Mein eigener Neffe tut die schmutzige und blutige Arbeit für mich. Und trotz all der Mühen und geopferten Leben ist unsere Küste noch nicht sicher. Nun stehe ich vor dieser letzten Chance, dieser schweren Aufgabe. Soll ich diesmal meine Königin aussenden, um zu tun, was meines Amtes wäre?«
»Vielleicht.« Kettrickens Stimme schwankte. Sie hielt den Blick in die Flammen gerichtet, als sie leise bemerkte: »Und wenn wir zusammen gingen?«
Veritas überlegte. Er zog es wirklich in Erwägung, und Kettricken merkte, daß er ihren Vorschlag ernst nahm. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, doch es erlosch, als er bedächtig den Kopf schüttelte.
»Ich wage es nicht«, sagte er traurig. »Jemand muß hierbleiben. Jemand, dem ich vertraue. König Listenreich ist – um die Gesundheit meines Vaters steht es nicht zum Besten. Ich habe Angst um ihn. In Bocksburg muß jemand sein, der die Regierungsgeschäfte übernimmt, sollte es zum Äußersten kommen.«
Sie schaute zur Seite. »Ich würde lieber mit Euch gehen.«
Ich wandte den Blick ab, als er ihr Kinn umfaßte, und sie mit sanfter Gewalt zwang, ihn anzusehen. »Ich weiß. Das ist das Opfer, welches dir abverlangt wird. Zu bleiben, wenn du lieber gehen würdest. Allein zu sein, wie schon viel zu lange. Zum Wohl der Sechs Provinzen.«
Etwas in ihrem Innern schien zu zerbrechen. Ihre Schultern sanken herab, sie neigte den Kopf. Als Veritas sie in seine Arme zog, stand ich leise auf und ging mit Rosemarie hinaus.
Ich saß in meinem Zimmer, besser spät als nie, über den Schriftrollen und -tafeln, als der Page wieder an meine Tür klopfte. »Ihr seid in des Königs Gemächer befohlen, in der Stunde nach der Abendmahlzeit«, lautete seine Botschaft. Mir wurde elend. Zwei Wochen waren seit meinem letzten Besuch vergangen, und ich hatte nicht den Wunsch, dem König wieder gegenüberzutreten. Wenn er mich rufen ließ, um mir zu befehlen, ich solle um Zeleritas Hand anhalten, wußte ich nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich hatte Angst, die Beherrschung zu verlieren. Entschlossen breitete ich eine der Schriftrollen auf dem Tisch aus und versuchte, mich darin zu vertiefen, doch es zwar zwecklos. Ich sah nur Molly.
In den kurzen Nachtstunden, die uns seit dem Tag am Strand vergönnt gewesen waren, hatte Molly nicht einmal wieder die Rede auf Zelerita gebracht. Im Grund genommen eine Erleichterung, hätte sie nicht gleichzeitig aufgehört, mich mit all den Dingen zu necken, die sie von mir verlangen würde, wenn ich nach Recht und Brauch ihr Gemahl war, und damit, wieviel Kinder sie sich wünschte. Ohne Aufhebens hatte sie die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft begraben. Wenn ich darüber nachdachte, brachte es mich schier um den Verstand. Sie machte mir keine Vorwürfe, da sie wußte, daß ich nicht Herr meines Schicksals war. Sie fragte nicht einmal, was denn nun aus uns werden solle. Wie Nachtauge schien sie ausschließlich in der Gegenwart zu leben. Jeden Augenblick der Nähe, den wir teilten, nahm sie als einzigartig und fragte nicht, ob es einen nächsten geben würde. Was ich von ihr spürte, war nicht Verzweiflung, sondern Selbstbeschränkung: eine feste Entschlossenheit, uns von dem mißgünstigen Morgen nicht nehmen zu lassen, was das Heute uns bot. Ich hatte die Hingabe eines solch treuen Herzens nicht verdient.
Wenn ich dösend neben ihr im Bett lag, warm und geborgen im Duft ihres Körpers und ihrer Kräuter, war es ihre Kraft, die unsere Liebe beschützte. Sie verfügte nicht über die Gabe, sie besaß nicht die alte Macht. Ihre Magie war stärkerer Art und wirkte durch ihren Willen allein. Sobald sie nachts die Tür hinter mir verschlossen und verriegelt hatte, schuf sie in ihrer Kammer eine Welt und eine Zeit, die nur uns gehörte. Hätte sie blind ihr Leben und ihr Glück in meine Hände gelegt, schon das wäre unerträglich gewesen, aber sie glaubte,
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