Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
bittere Elfenrinde. Nach wenigen Augenblicken fühlte ich, wie mein Kopf klar wurde und ein Schmerz, dessen ich mir gar nicht bewußt gewesen war, wieder abebbte. »Viel besser«, seufzte ich, und Chade dankte mir mit einer angedeuteten Verbeugung. Dann nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf.
»Es ist trotz allem eine schwache Theorie. Vielleicht haben wir es nur mit einem selbstsüchtigen Prinzen zu tun, der in Abwesenheit des Erben vor seinen Anhängern den Hausherrn spielt. Er vernachlässigt den Schutz seiner Küste, weil er kurzsichtig ist und weil er erwartet, daß sein Bruder, wenn er nach Hause kommt, den Schlamassel wieder in Ordnung bringt, den er angerichtet hat. Er plündert die Staatskasse und verkauft Pferde und Vieh, um sich die Taschen zu füllen, während niemand da ist, der ihm Einhalt gebietet.«
»Wenn das stimmt, weshalb dann Bearns als Verräter brandmarken? Und Kettricken als fremdländischen Eindringling hinstellen? Weshalb Veritas und seine Queste zum Gespött machen?«
»Eifersucht. Edel ist immer seines Vaters verwöhnter Liebling gewesen. Ich glaube nicht, daß er sich gegen ihn wenden würde.« Etwas in Chades Stimme verriet mir, daß es das war, was er glauben wollte. »Von mir stammen die Kräuter, die Wallace dem König gegen seine Schmerzen verabreicht.«
»Ich mißtraue deinen Kräutern nicht. Aber ich befürchte, daß ihnen noch andere hinzugefügt werden.«
»Was wäre der Sinn? Selbst wenn Listenreich stirbt, ist Veritas immer noch der Erbe.«
»Außer Veritas stirbt vor ihm.« Ich hob die Hand, als Chade den Mund aufmachte, zu protestieren. »Es muß nicht wirklich geschehen; falls Edel über die Kordiale gebietet, kann er jederzeit mit der Nachricht von Veritas’ Tod aufwarten. Edel wird zum König-zur-Rechten ernannt. Dann…« Ich ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.
Chade stieß einen langen Seufzer aus. »Genug. Du hast mir reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben. Ich werde diese Mutmaßungen auf meine Weise überprüfen. Vorläufig aber mußt du auf dich aufpassen. Und auf Kettricken. Und auf den Narren. Ist an deinen Vermutungen auch nur ein Körnchen Wahrheit, seid ihr alle für Edel Hindernisse auf dem Weg zu seinem Ziel.«
»Und was ist mit dir?« fragte ich. »Weshalb auf einmal dieses Flüstern und auf Zehenspitzen gehen?«
»Neben diesem Gemach befindet sich ein weiteres, das bisher immer leergestanden hat. Doch neuerdings ist einer von Edels Gästen darin untergebracht. Vigilant, sein Vetter und Erbe von Farrow. Der Mann hat einen ungemein leichten Schlaf. Bei den Dienern beschwert er sich über Ratten im Mauerwerk. Dann hat vergangene Nacht Schleicher einen Kessel umgeworfen. Von dem Scheppern ist er aufgewacht. Überdies scheint er noch von unstillbarer Neugier geplagt zu sein, denn jetzt fragt er die Leute, ob es in Bocksburg schon einmal gespukt hat. Und ich habe ihn die Wände abklopfen gehört. Ich glaube, er hat den Verdacht, daß es ein geheimes Zimmer gibt. Kein Grund zu großer Sorge, denn ich bin sicher, er wird bald abreisen, aber etwas mehr Vorsicht ist angebracht.«
Ein Gefühl sagte mir, daß das nicht alles war, aber was Chade nicht preisgeben wollte, ließ er sich auch durch Fragen nicht entlocken. Doch eines mußte ich noch wissen: »Findest du jeden Tag Gelegenheit, den König zu besuchen?«
Er senkte den Blick auf seine Hände und schüttelte langsam den Kopf. »Ich muß dir gestehen, daß Edel etwas von meiner Existenz zu ahnen scheint. Wenigstens hat er einen Verdacht, denn zu allen Zeiten lungern welche von seinen Sykophanten herum. Das macht es nicht leichter. Doch genug von unseren Sorgen, malen wir die Zukunft nicht zu schwarz.«
Und Chade begann eine lange Diskussion über die Uralten, basierend auf dem Wenigen, das wir über sie wußten. Wir malten uns aus, wie es sein würde, sollte Veritas’ Queste von Erfolg gekrönt sein, und stellten Vermutungen an, in welcher Form uns die Hilfe der Uralten zuteil werden könnte. Chade sprach mit großer Hoffnung und Ernsthaftigkeit davon, sogar mit Enthusiasmus. Ich bemühte mich, seine Begeisterung zu teilen, doch ging meine Überzeugung eher dahin, daß die Rettung der Sechs Provinzen davon abhing, die Viper aus unserer Mitte zu entfernen. Schließlich schickte er mich in mein Zimmer zurück. Ich legte mich ins Bett, eigentlich nur, um ein paar Minuten zu ruhen, bevor ich dem neuen Tag ins Antlitz blickte, doch statt dessen fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Die
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