Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
zurückgehalten werden, daß unsere Bemühungen, eine Verteidigung zu organisieren, zu spät erfolgen? Er sorgt dafür, daß Veritas aussieht wie ein Dummkopf, er untergräbt das Vertrauen in den zukünftigen König.«
»Und Veritas hätte nichts davon gemerkt?«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Seine Gabe ist außerordentlich stark, doch er kann nicht alles gleichzeitig wahrnehmen, gerade weil seine besondere Fähigkeit darin liegt, sie konzentriert einzusetzen. Um seine eigene Kordiale zu belauschen, müßte er aufhören, die Küstengewässer nach Roten Korsaren abzusuchen.«
»Kann er – weiß Veritas, daß wir gerade miteinander sprechen?«
Ich zuckte beschämt die Schultern. »Ich kann es nicht sagen. Das ist mein Fluch. Manchmal weiß ich genau, was er denkt, als stünde er neben mir und spräche es laut aus. Zu anderen Zeiten nehme ich ihn kaum wahr. Letzte Nacht, als er und der König sich durch mich unterhalten haben, konnte ich jedes Wort verstehen. Jetzt…« Ich durchforschte mein Bewußtsein, in der Art, wie man sich nach einem bestimmten Gegenstand die Taschen abklopft. »Ich spüre nichts, außer, daß die Verbindung zwischen uns noch besteht.« Ich beugte mich vor und legte den Kopf in die Hände. Müdigkeit drohte mich zu überwältigen.
»Tee?« fragte Chade freundlich.
»Bitte. Und wenn ich noch eine Minute still hier sitzen dürfte. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letztenmal solche Kopfschmerzen hatte.«
Chade hängte den Kessel über das Feuer. Ich schaute ohne Begeisterung zu, als er die Kräuter für den Tee zusammenstellte. Etwas Elfenrinde, aber bei weitem nicht soviel, wie ich noch vor wenigen Stunden gebraucht hätte. Pfefferminze und Katzenzungenkraut. Ein Stückchen kostbare Ingwerwurzel. Fast genau die gleiche Mischung, die er in den vergangenen Sommern Veritas zu verabreichen pflegte, gegen seine Erschöpfung durch den zu langen Gebrauch der Gabe. Dann setzte er sich wieder zu mir. »Unmöglich. Deine Hypothese erfordert die blinde Ergebenheit der Kordiale gegenüber Edel.«
»Jemand, der besonders stark in der Gabe ist, kann das bewerkstelligen. Mein Manko ist eine Folge dessen, was Galen mir angetan hat. Erinnerst du dich an Galens fanatische Verehrung Chivalrics? Das war eine künstlich geschaffene Loyalität. Galen hätte das gleiche bei ihnen bewirken können, als krönenden Abschluß ihrer Ausbildung.«
Chade wiegte zweifelnd den Kopf. »Glaubst du, Edel ist so dumm zu glauben, die Roten Schiffe würden sich mit Bearns zufrieden geben? Früher oder später wollen sie uns, wollen sie Rippon und Shoaks. Was bleibt ihm dann?«
»Die Inlandprovinzen. Die einzigen, die ihm wichtig sind. Dort lägen Berge, Ebenen und Täler zwischen ihm und der Unternehmenslust der Korsaren, und vielleicht glaubt er wie du, daß sie es nicht auf die Eroberung von Land abgesehen haben, sondern nur auf ein ergiebiges Revier für ihre Raubzüge. Es sind Seefahrer. Sie werden sich nicht so weit landeinwärts vorwagen, daß sie ihm zu dicht auf den Pelz rücken. Und die Küstenprovinzen werden zu sehr damit beschäftigt sein, sich der Roten Korsaren Schiffe zu erwehren, um etwas gegen Edel zu unternehmen.«
»Und wie wird es Inlandherzögen gefallen, keinen Zugang zur Küste mehr zu haben, zu den Häfen? Vom Seehandel abgeschnitten zu sein?«
Ich zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich habe nicht alle Antworten. Aber dies ist die einzige meiner Theorien, in der fast alles zusammenpaßt.«
Er stand auf, und ich schaute zu, wie er eine bauchige braune Kanne ausschwenkte, das Briefchen mit den Kräutern hineinwarf und kochendes Wasser darübergoß. Der Duft eines Gartens zog durch den Raum. Ich nahm das einheimelnde Bild eines alten Mannes, wie er den Deckel auf die Kanne setzte und sie sorgfältig nebst zwei Bechern auf das Tablett stellte, und verstaute es sorgfältig in einem Winkel meines Herzens. Das Alter nagte an Chade, so unaufhaltsam wie die Krankheit an seinem Halbbruder. Seine Bewegungen waren nicht mehr ganz so flink, seine vogelähnliche Lebhaftigkeit nicht ganz so quick wie früher. Traurigkeit überkam mich bei diesem Anhauch des Unausweichlichen. Als er mir den Becher mit dem heißen Tee in die Hand drückte, runzelte er über meinen Gesichtsausdruck die Stirn.
»Was ist?« flüsterte er. »Willst du Honig dazu?«
Ich lehnte mit einem Kopfschütteln ab, nippte vorsichtig und hätte mir fast die Zunge verbrannt. Ein angenehmer Geschmack überlagerte die
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