Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
hättest bei dem Wolfsrudel bleiben können.
Seine Augen trafen meine, und selbst in der Dunkelheit konnte ich mich ihrem Bann nicht entziehen. Du wirst gerufen, oder nicht? Sagt dein König nicht zu dir: »Komm zu mir«?
Ich nickte widerwillig. Ich werde gerufen.
Nachtauge richtete den Blick in die Ferne. Wenn du gerufen wirst, werde ich auch gerufen. Das Geständnis kostete ihn Überwindung.
Du hast keine Veranlassung, mit mir zu kommen. Dieser Ruf meines Königs bindet mich, nicht dich.
Du irrst. Was dich bindet, bindet mich.
Ich verstehe nicht, wie das sein kann, meinte ich bestürzt.
Ich auch nicht. Dennoch ist es so. »Kommt zu mir«, ruft er uns. Eine Zeitlang konnte ich meine Ohren dagegen verschließen, aber nun nicht mehr.
Das tut mir leid. Ich suchte nach Worten, um mich verständlich zu machen. Er hat kein Recht auf dich. Ich glaube nicht, daß es seine Absicht war, dich zu rufen. Ich glaube nicht , daß es seine Absicht war, mich zu binden. Doch es ist geschehen, und ich kann mich ihm nicht widersetzen.
Ich stand auf und klopfte mir den Schnee ab. In mir regte sich Scham. Veritas, ein Mann, dem ich vertraute, hatte mir dies auferlegt. Das war schlimm genug. Aber durch mich geriet auch der Wolf unter diesen Zwang. Veritas hatte nicht das Recht, in sein Leben einzugreifen. Doch was das anging – ein solches Recht besaß auch ich nicht. Unsere Beziehung hatte auf Freiwilligkeit beruht, auf einem gegenseitigen Geben und Nehmen ohne jede Verpflichtung. Und nun war Nachtauge durch mich so unentrinnbar gefangen, als hätte ich ihn in einen Käfig gesperrt.
Dann sitzen wir gemeinsam im selben Käfig.
Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dich davon zu befreien, aber ich weiß nicht einmal, wie ich mich selbst befreien soll. Da ich nicht verstehe, auf welche Weise du gebunden bist, kann ich dich nicht lösen. Du und ich, wir teilen die Alte Macht, Veritas und ich teilen die Gabe. Wie konnte sein Gabenruf durch mich auch von dir Besitz ergreifen? Du warst nicht einmal bei mir, als er mich bannte.
Nachtauge saß neben mir und bewegte sich nicht. Wind war aufgekommen und zauste sein Fell. Ich bin allezeit bei dir, Bruder. Du magst dir meiner Gegenwart nicht immer bewußt sein, aber ich bin immer bei dir. Wir sind eins.
Wir teilen vieles, gab ich zu, nicht ohne ein Gefühl des Unbehagens.
Nein. Er schaute mir so direkt ins Gesicht und in die Augen, wie kein wilder Wolf es getan hätte. Wir teilen nicht, wir sind eins. Ich bin nicht länger ein Wolf, und du bist nicht länger ein Mensch. Was wir beide zusammen sind, das kann ich nicht benennen. Vielleicht wüßte er, der zu uns von dem Alten Blut gesprochen hat, ein Wort dafür. Er schwieg. Da siehst du, wie sehr ich Mensch bin, daß ich davon rede, ein Wort für eine Idee zu haben. Aber wir brauchen kein Wort. Wir existieren, und wir sind, was immer wir sind.
Ich würde dich freigeben, wenn ich könnte.
Ich würde mich nicht von dir trennen.
Das wollte ich damit nicht sagen. Aber du solltest ein eigenes Leben haben.
Er gähnte, dann streckte er sich ausgiebig. Wir sollten beide ein eigenes Leben haben, und wir werden es uns gemeinsam schaffen. Genug davon. Reisen wir bei Tag oder bei Nacht?
Wir reisen bei Tag.
Er spürte, was ich meinte. Du willst bei diesem Rudel bleiben? Weshalb kommst du nicht mit mir? Wir kämen schneller voran.
Ich schüttelte den Kopf. So einfach ist das nicht. Auf dieser Reise brauche ich Schutz. Ich brauche den Schutz des Rudels, um im Winter zu überleben.
Eine schwierige halbe Stunde lang bemühte ich mich, ihm zu erklären, daß ich der Unterstützung der anderen im Treck bedurfte, um die Berge zu erreichen. Mit einem Pferd und eigenem Proviant hätte ich nicht gezögert, auf mein Glück zu vertrauen, und mich mit dem Wolf auf den Weg gemacht. Doch zu Fuß, mit nur soviel an Ausrüstung, wie ich auf dem Rücken tragen konnte, durch den tiefen Schnee und die klirrende Kälte der Berge wandern, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, über den Fluß zu kommen – ein solcher Narr war ich nicht.
Wir könnten jagen, beharrte Nachtauge. Zum Schlafen werden wir uns im Schnee zusammenrollen. Er würde sich um mich kümmern, so wie immer. Mit viel Geduld gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, daß ich diesesmal bei meinesgleichen besser aufgehoben war. Dann muß ich wie ein streunender Hund hinter diesem Menschenrudel herschleichen ?
»Tom? Tom, bist du da draußen?« Niks Stimme
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