Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
auch nicht mehr stützen und beistehen, wie sie es einst hielten. Sie bekommen nichts Wertvolles von uns.«
Tirîgon, der in seiner neuen Rüstung wie sein Bruder sehr stattlich wirkte, kreuzte die Arme vor der Brust. »Ah, die Infamen sind anspruchsvoll? Was ist mit Gebeten und Räuchergaben? Genügen sie nicht?«
Marandëi sandte ihm einen herablassenden Blick. »Wirst du von Rauch und Worten satt?«
»Wohl kaum«, antwortete er mit einem Grinsen.
»Warum sollten es dann Götter werden?« Sie erbat sich etwas zu trinken und bekam von Firûsha einen Becher mit Wasser gereicht. »Früher, so fand ich in alten Aufzeichnungen geschrieben, wurden die Infamen mit Opfern zufriedengestellt. Man sicherte sich deren Gunst durch neunzig Albae im Jahr: dreißig Männer, dreißig Frauen, dreißig Neugeborene.«
»Bei den …« Firûsha verschluckte den Rest des Ausspruchs. Das kann ich nicht glauben.
»Die Unauslöschlichen verboten die Opferungen, da sie den Fortbestand des Volkes gefährdet sahen«, sprach Marandëi weiter. »Ein Vorwand, weiter nichts. In Wahrheit waren sie eifersüchtig auf die Gottheiten und die Wunder, die jeder sah und die von den Albae geschätzt wurden. Zumal es als eine Ehre galt, sich für die Infamen in die Endlichkeit zu begeben. Natürlich ließen die Infamen ohne Opfer keinerlei Wohltaten mehr auf unser Volk niedergehen, und damit sank ihr Ansehen zugunsten der Unauslöschlichen.«
Firûsha dachte an das fürchterliche Ende von Dsôn Faïmon. Sie konnte sich nicht der Möglichkeit verwehren, dass es den Albae mit der Gnade der Infamen anders ergangen wäre. Opferungen unserer eigenen Art kämen dennoch niemals infrage!
»Das Ende der Hochschule, von der du mir berichtet hattest: Es war kein Unglück, sondern Absicht«, sagte Sisaroth Marandëi auf den Kopf zu.
»Ja. Ich tarnte deren Untergang als einen tragischen Unfall, doch ich opferte ihre Seele den Infamen«, gestand sie. »Den Schädel des Shëidogîs fand ich in einem zerstörten Reliquienschrein, im Keller der Schule. Man hatte versucht, jegliches echte Andenken an die Infamen auszumerzen. Um die Frevler zu bestrafen, riss ich sie in den Tod. Shëidogîs verlieh mir dafür besondere Kräfte.« Sie nahm noch einen Schluck. »Den Unauslöschlichen fiel es leicht, sich zusammenzureimen, was wirklich geschehen war, und sie ließen mich durch andere Cîanai jagen. Phondrasôn erschien mir der sicherste Zufluchtsort. Für mich und für Shëidogîs, bevor ihn die junge Albin mit einem Kerzenleuchter zerschlug.« Sie warf Firûsha einen eisigen Blick zu. »So war alles umsonst.«
»Verstand ich richtig, dass du die Albae in Phondrasôn in diesen Turm locken, sie einsperren und deinem Infamenkopf opfern wolltest?«, fasste Tirîgon zusammen.
Marandëi erwiderte nichts.
»Antworte meinem Bruder«, wies Sisaroth sie an. »Und sprich die Wahrheit zu ihm wie zu mir.«
»Ja«, entgegnete sie unverzüglich und gereizt. »Das war mein Vorhaben. Meine eigene Dummheit machte es zunichte.«
Sie ist verrückt. Wahnsinnig! Sie hätte uns alle für diesen Shëidogîs oder… diesen … Dämon umgebracht, wenn ihr eigenes Werk sie nicht festgesetzt hätte. Firûsha versuchte, Tirîgons Blick zu erhaschen, um seine Meinung ablesen zu können.
Da klopfte es.
Die Tür schwang auf, herein kamen Tossàlor, in seiner purpurfarbenen Robe, und der gerüstete Crotàgon.
»Ich hörte, dass unsere Anführer vollzählig versammelt sind.« Der Künstler hielt ein Kissen auf der rechten Hand, das er mit einem Samttuch abgedeckt hatte. Was sich darunter verbarg, war anhand der ungewöhnlichen Form leicht zu erraten. »Zu dieser besonderen Gelegenheit bringe ich meine neuste Schöpfung.« Er nickte dem hünenhaften Alb zu, der das Tuch mit einer großen Geste entfernte.
Der zusammengesetzte und verleimte Schädel kam zum Vorschein. Die Risse waren deutlich zu sehen, doch es fehlte nicht ein winziger Splitter, kein Stückchen Blattgold, keine Perle und kein Silberkügelchen.
Marandëis Antlitz strahlte vor Freude. Firûsha dagegen erstarrte.
»Wahrlich, das kann man schon als mein Meisterwerk bezeichnen. Zumindest wenn es darum geht, zerstörte Dinge zusammenzusetzen«, erklärte Tossàlor zufrieden. »Ich baute mir zahlreiche Halterungen mit Haken und Polsterungen, damit es mir gelang, die vielen Fragmente zusammenzufügen. Nachdem ich sicher war, dass der Leim hielt, verband ich die Striche der Bemalungen neu, stellte die Intarsien wieder her und schleifte
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