Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Tirîgon dachte an Esmonäe, ohne in Trauer oder Hass zu verfallen. Plötzlich glaubte er, den Sinn der Geschehnisse zu verstehen: Ihr Tod war ein Opfer. Für ihn und Sisaroth. Für die Rückkehr der Brüdereintracht.
Diese Bindung zwischen ihnen würde stärker sein als damals in Dsôn.
Wer die Wahl
zwischen zwei Dingen hat,
und man eine Entscheidung von ihm erwartet,
sollte gehen
ohne zu wählen.
Das ist die größte Freiheit.
Weisheiten, aus dem Epos »Junge Götter«,
aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort
Phondrasôn
Firûsha war überglücklich, als die Rückkehr ihrer Brüder von den Torwachen gemeldet wurde. Als ob sie es geahnt hätte, trug sie eines ihrer schönsten Kleider, schwarz-grün, mit weißen Stickereien und eingewirkten Silberfäden.
Sie eilte ihnen entgegen, begrüßte sie überschwänglich auf der Brücke und begleitete sie durch die Festungstore und -höfe in den Palast; unterdessen erzählte sie in allen Einzelheiten, was sich während der Abwesenheit von Sisaroth und Tirîgon zugetragen hatte. Äußerst aufgeregt und erleichtert, fiel ihr zunächst nicht auf, dass Esmonäe fehlte.
Ihre Brüder berichteten ihr schließlich, was ihnen auf ihrer Reise zum Zhadar widerfahren war und wie sie die Albin verloren hatten.
Keiner von ihnen erweckte den Eindruck, unter dem Verlust sehr zu leiden, was Firûsha verwunderte. Es schien, als gäbe es eine neue Eintracht zwischen ihnen. Kräftiger, unbelastet, frei von Rissen und Sprüngen. Dieses Erlebnis brachte sie enger zusammen.
Gleichzeitig wusste sie, dass der Eindruck sie täuschen konnte. Vor allem Tirîgon verdrängte Schmerz sehr gut und schob ihn zugunsten seines taktischen Verstandes zurück. Firûsha hatte in Dsôn viele Nächte an seinem Bett gesessen, weil der Seelenschmerz ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, und ihn in den Schlaf gesungen. Doch wer ihn tagsüber traf, bemerkte seine Qualen nicht, die er innerlich mit sich austrug. Daher fragte sie nicht weiter nach. Ich werde ihn zu beruhigen wissen, wenn er es wünscht.
Im Palast angekommen, schritten sie in Marandëis Kammer, wo die Cîanai schlafend auf dem Bett lag, bewacht von zwei Gardisten.
Tirîgon sandte die Aufpasser hinaus, dann weckten sie Marandëi mit heftigem Rütteln an den Schultern und einigen Spritzern kalten Wassers aus der Karaffe, die neben dem Lager auf dem Tisch stand.
Die Cîanai schlug die Augen auf, sah sich verwundert im Raum um. Sie lächelte erst, als sie Sisaroth an ihrem Bett entdeckte. »Es war rücksichtsvoll, mich nach dem Niederschlag in einen Heilschlaf zu versetzen«, sprach sie bitter. »Schön, ohne schmerzenden Unterkiefer zu erwachen.«
»Meine Schwester berichtete, was vorgefallen ist«, sagte Sisaroth und war weit davon entfernt, besonders streng mit seiner Untergebenen umzuspringen. »Ich möchte von dir deine Variante erfahren. Und ich befehle dir, dass du nichts anderes als die Wahrheit sprichst.«
Was werden wir hören? Firûsha war gespannt, ob die Cîanai sie beim Verhör belogen hatte. Aber zu ihrer Erleichterung vernahm sie das Gleiche, wenngleich ihr nicht entging, dass Marandëi immer noch den Sinn des Turmes verschwieg. »Frag sie danach«, bat sie Sisaroth, und er gab ihre Frage weiter.
»Ich errichtete ihn, um Albae zu fangen«, kam es stockend über Marandëis Lippen. »Der Infame verlangte es von mir.«
Die Geschwister sahen sich an.
Verlogenes Stück! »Also wolltest du uns erst in Sicherheit wiegen und töten, sobald es dieser Shëidogîs gefordert hätte!«, rief Firûsha erbost. »Je mehr Albae sich in der Festung versammelten, desto besser gefiel es dir. Wir waren als Opfergaben vorgesehen. Ist es nicht so?«
Tirîgon hob die Hand. »Warte, warte, liebste Schwester. Es muss eine Erklärung geben, weswegen ein Infamer Tote von dem Volk verlangt, das ihn als Gott verehrt.«
»Mir ist übrigens ein solcher Kult des Shëidogîs nicht bekannt«, ergänzte Sisaroth. »Weder Vater noch Mutter berichteten davon, dass ein Infamer Albaeseelen für sich einforderte.«
Firûsha gefiel der Ausdruck auf Sisaroths Zügen nicht. Er hatte in Dsôn Priester der Infamen werden wollen. Die Faszination für die Götter hielt sich trotz seines Talents für das Kriegshandwerk. Ich hoffe, er zieht nicht in Betracht, die krude Ansicht der Cîanai zu teilen!
»Diese besondere Art des Kults wurde von den Unauslöschlichen verboten«, erklärte Marandëi. »Das ist der Grund, weswegen uns die Infamen
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