Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
mich wiederum bedroht hatte, verschwand. Ich denke, sie ist in eine Spalte gerutscht. Niemand konnte sie finden.« Sie sah ihn an. »Mir wurde vorgeworfen, einen Mord begangen zu haben, und weil alles gegen mich sprach und es keine Zeugen gab, landete ich hier.«
Tirîgon versuchte, an ihren verschmutzten Zügen abzulesen, ob sie die Wahrheit sprach. »Womit hattest du dein Einkommen in Dsôn verdient?«
»Warum fragst du das?«
»Weil du dich wie eine Kriegerin bewegst, die viel Erfahrung hat. Mein Vater …« Er verschwieg rechtzeitig, dass Aïsolon der Statthalter war, »gehörte lange Zeit der Wallmannschaft an. Ich lernte von ihm.«
»Nicht genug, wenn du mich fragst«, warf sie ein und zeigte keine Belustigung. »Nein, ich diente einer hochstehenden Albin als persönliche Beschützerin.«
»Ach? Wie hieß sie?«
»Das spielt keine Rolle mehr. Sie setzte sich nicht für mich ein, als ich es benötigt hätte. Die Enttäuschung ist zu groß.«
Für Tirîgon klangen ihre Erklärungen verworren oder genau überlegt. Sie flüchtet vor konkreten Namen, weil sie mich anlügt. Es gab niemanden in Dsôn, der einen Leibwächter einstellte, um sich vor anderen zu schützen.
Fehden wurden im Verborgenen und mit bösen Worten ausgetragen, mit Gerüchten und Gerichten. Lediglich im schlimmsten Fall kam es zu einem Zweikampf, um die Verhältnisse zu klären. Niemand ließ deswegen Anschläge mit gekauften Mördern ausführen.
Ausgebildete Meuchler gab es zudem nicht mehr. Sie waren nach Tark Draan gegangen, wie Aïsolon erzählte. Der bekannteste von ihnen hatte auf den Namen Virssagòn gehört, ein Meister im Ersinnen neuer Waffen und Techniken für deren Einsatz.
Aus irgendeiner dunklen Ecke flog ein Gedanke heran, den er zuerst gar nicht wahrnahm, bis er sich nach vorn drängte.
Ihr Infamen! Tirîgon hatte sich zusammenreißen wollen, doch er konnte nicht anders, als die Albin eindringlich zu mustern. Dieses Mal nicht ihrer flirrenden Haarpracht wegen. Soll sie eine von Virssagòns Schülerinnen gewesen sein?
Sie schien ihm anzusehen, dass er sich mit ihr beschäftigte. »Da sitzen wir nun, in Phondrasôn«, sprach sie leichthin und legte eine Hand auf ihren Bauch. »Ich käme gerne auf dein Angebot zurück.«
»Mein Angebot?«
»Die Fische. Du wolltest mir zeigen, wo sich der Teich befindet, in dem man sie mit den Händen fangen kann. Ein Feuer zum Braten haben wir.« Sie nickte ihm zu und stand auf. »Danach darfst du beruhigt schlafen. Ich halte Wache.«
Das soll mir recht sein. An eine List glaubte er nicht. Sie hätte mich bereits umbringen können. Tirîgon willigte ein und führte sie mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Gänge zum kleinen Tümpel.
Die Albin lief schräg versetzt neben ihm und wunderte sich, wie er aus dem rechten Augenwinkel sah. »Wieso kennst du dich so gut aus?«, fragte sie ihn. »Es wirkt, als wüsstest du genau, welche Stollen in welchen münden und wie man herausfindet.«
Er klopfte sich gegen die gerüstete Brust. »Ich habe eine …« Nein, sag es ihr nicht, warnte ihn eine innere Stimme, »… gute Orientierungsgabe.«
»So, so.« Sie schien zufrieden zu sein. »Dann sollte ich in deiner Nähe bleiben und mit dir reisen.«
»Darfst du denn nach Dsôn Sòmran zurück? Ich bin im Gegensatz zu dir freiwillig in diesen Höhlen. Du entsinnst dich?«
»Schon.« Sie nickte. »Meine Strafe ist verbüßt. Ich fand bislang nur keinen Weg nach Dsôn.«
Tirîgon fand keinen rechten Gefallen an der Vorstellung, die als Obboona verkleidete Albin neben sich zu haben. Nach wie vor hegte er Zweifel, was ihren Geisteszustand anging. Aber ich muss zugeben, dass sie zu kämpfen versteht. Sie wäre eine gute Lebensabsicherung.
Am Teich angekommen, zeigte er ihr die Stelle, wo die Fische halb unter einem Steinvorsprung verborgen schwammen. »Jetzt möchte ich sehen, wie schnell es dir gelingt«, forderte er sie heraus und ging langsam zum Wasser.
Sie hechtete an ihm vorbei, tauchte mit einem Kopfsprung unter und erschien mit einem Fisch an der Oberfläche, der zappelnd in ihren Händen hing. Das Wasser hatte den gröbsten Schmutz von ihr gespült und erlaubte einen deutlicheren Eindruck von ihrer wahren Anmut. »Ich glaube, ich habe gewonnen«, sagte sie und warf ihn an Land. »Sanft gebratenes Fleisch! Darauf freue ich mich schon.«
Tirîgon sah, wie sich die Albin zuerst die nassen Kleider und dann die falsche Haut abstreifte. Sie tauchte bis zum Halsansatz unter, um sich
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