Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Die Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Er wollte sich aufsetzen, doch Mercuun hielt ihn zurück.
»Nicht. Ich schleppe dich nur weg, weil wir an einen sicheren Ort gelangen müssen.«
»Aber was ist mit Aryndeneth? Was ist mit den anderen? Meru, sage es mir.«
Mercuuns Grinsen verflog und wich einem Ausdruck, der schierer Verzweiflung nahe kam.
»Die Fremden haben den Tempel eingenommen«, sagte er. »Alle anderen sind tot, und die Fremden haben fast fünfzig Männer, die ihn bewachen. Sie haben Feuer angezündet und Zelte aufgebaut und ruhen sich im Innern aus.«
Rebraal wurde übel. Fremde entweihten Aryndeneth durch jede Berührung und jeden Atemhauch, der über die heiligen Wände strich. Und den großen Tempel als Schlafsaal zu benutzen! Nicht einmal die Al-Arynaar taten es. Sie schliefen außerhalb in Hängematten unter Schutzdächern, die sie hinter dem Tempel auf einer Lichtung errichtet hatten.
»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Rebraal.
»Wir sind nur zu zweit«, wandte Mercuun ein. »Allein können wir nichts ausrichten.«
Rebraal schob Mercuuns Hand zur Seite und kämpfte sich hoch, bis er aufrecht saß. Seine linke Schulter brannte vor Schmerzen, und er keuchte. Mit der rechten Hand tastete er die Wunde ab.
»Ich habe den Armbrustbolzen entfernt, doch er saß
tief im Fleisch«, erklärte Mercuun. »Sie haben dich wohl für tot gehalten, genau wie ich, als ich dich fand. Shorth möge den anderen gnädig sein. Diese Bastarde haben die Leichen einfach auf einem Haufen im Wald liegen lassen. Keine Zeremonie, keine Achtung, keine Ehre.«
»Dann hatte ich Glück. Tual hat mich gerettet, damit ich den Tempel zurückerobern kann.«
Als hätte der Name Tuals, der Göttin der Waldbewohner, eine Woge durch den Wald laufen lassen, knurrte in der Nähe ein Jaguar, und über ihnen wurde der Schrei eines Affen von seiner ganzen Horde wiederholt.
»Siehst du?« Rebraal lächelte grimmig. »Tual hat es gehört.«
»Ja, wir werden den Tempel zurückerobern, aber ich muss dich zuerst zum Dorf bringen, sonst stirbst du«, sagte Mercuun. »Die Wunde vom Bolzen rötet sich bereits, weil du eine Infektion bekommst, und du hast überall Schnittwunden. Ich habe deine Haut mit Legumia behandelt, aber du brauchst einen Magier, der die Schultermuskeln flickt, und du hast zu viel Blut verloren. Du kennst die Anzeichen so gut wie ich.«
»Ich will nicht zum Dorf«, sagte Rebraal.
»Bitte, Rebraal, dies ist nicht der Augenblick, um alte Feindseligkeiten auszugraben. Du musst wieder gesund werden.«
Rebraal schüttelte den Kopf. »Zwinge mich nur nicht, mit ihnen zu reden. Sie haben keinen Glauben.« Er gab Mercuun die rechte Hand. »Hilf mir auf, ja? Ich bin nicht zu schwach, um zu laufen.«
Doch als sie aufgebrochen waren, war er nicht mehr so sicher. Die Schmerzen in der Schulter wurden ständig stärker, während Mercuuns lindernder Umschlag an Wirkung verlor, und er hatte Krämpfe in den Beinen. Er fühlte
sich schwach, und ihm war schwindlig. Er musste sich auf seinen Freund stützen, weigerte sich aber zu rasten, ehe sie sich nicht ein ordentliches Stück von den Fremden entfernt hatten. Es würde ein Triumph sein, den Tempel zurückzuerobern. Jeder gefallene Al-Arynaar sollte zehnfach gerächt werden.
»Erzähle mir, wie es dir ergangen ist, Meru«, sagte er, als er die Kraft zum Sprechen fand und die Schmerzen vorübergehend zu einem dumpfen Pochen abklangen.
»Ich habe Alarm geschlagen. Die Al-Arynaar sind alarmiert, und die Kunde verbreitet sich. Ich habe betont, wie wichtig es ist, dass unser Volk im Norden wachsam ist, und ich habe um Hinweise von jedem gebeten, der diese Leute an Land gehen sah. Es ist noch nicht klar, wie die Fremden den Tempel finden und die ganze Reise über unentdeckt bleiben konnten. Wir fürchten um die Beobachter im nördlichen Wald und im Hochland. Doch die Krallenjäger sind unterwegs, und die TaiGethen nähern sich. Diese Fremden werden Calaius nicht mehr verlassen.«
»Wie lange brauchen wir, bis wir uns sammeln und Aryndeneth zurückerobern können?«
Mercuun sog die Wangen ein. »Vergiss nicht, Rebraal, dass wir erst in siebzig Tagen abgelöst werden sollten. Die Versammlung muss abgehalten werden, und wir müssen Gebete sprechen, um Yniss nicht zu erzürnen. Es gibt Lücken im Netz. Einige sind auf Jagdexpeditionen, und es ist die Zeit der Kontemplation. Viele von denen, die in der Nähe leben, haben sich in Einsiedeleien zurückgezogen.«
»Wie lange?« Rebraal sah
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