Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
auf die Probe gestellt worden. Allerdings muss ich zugeben, dass meine Informationen alles andere als erschöpfend sind.«
Tessaya leerte sein Glas und schenkte sich nach, während er antwortete. »Ihr seid kein geborener Militärtaktiker, Devun. Das soll keine Respektlosigkeit sein. Ich dagegen habe die Kriegführung im Osten studiert, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelt hat, seit unsere Schreiber solche Dinge aufzeichnen. Auch die Geister können uns viel verraten, wenn man weiß, welche Fragen man zu stellen hat.
Nach Euren Ausführungen und nach dem, was ich aus anderen Quellen weiß, halte ich zweierlei für denkbar. Zuerst einmal die Möglichkeit, dass die Belagerer Xetesk nicht niederwerfen, sondern zur Aufgabe bewegen wollen. Lystern hat meines Wissens kein Interesse, Xetesk sterben zu lassen, strebt aber offenbar einen Wechsel der Führung an. Über Dordover weiß ich wenig, sie scheinen aber kämpferischer zu sein. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass Xetesk auf eine günstige Gelegenheit wartet. Verwechselt nicht das Ausbleiben von Taten mit der Unfähigkeit zu handeln.«
»Warum sollten sie darauf verzichten, die Belagerung bei
der erstbesten Gelegenheit zu durchbrechen?« Devun war gleichermaßen verwirrt und verlegen.
»Wer kann schon sagen, was im Kopf eines Magiers vor sich geht, Devun?«, erwiderte Tessaya lächelnd, und Devun fühlte sich, als habe ihn sein Vater milde zurechtgewiesen. »Vielleicht irre ich mich auch. Jedenfalls müssen wir sehr scharf nachdenken. Ich sehe beispielsweise die folgende Schwierigkeit: Falls ich als Anführer einer Armee in Erscheinung träte und ins Land der Kollegien einmarschierte, würden sich die Kollegien sofort gegen den neuen, gemeinsamen Feind verbünden.
Es ist seltsam, dass Ihr und Selik diese Möglichkeit nicht bedacht habt, und ein misstrauischer Mann könnte sich durchaus Gedanken machen, was Eure wahren Motive dafür sind, hierher zu kommen und mich aufzufordern, in den Krieg zu ziehen.«
Er hielt inne, und Devun wurde kreidebleich. Eigentlich wollte er protestieren, doch falls Tessaya ihn wirklich für einen Agenten hielt, der irgendwie im Auftrag der Kollegien tätig war, dann war er sowieso schon so gut wie tot. So beschränkte er sich darauf, einen großen Schluck zu trinken.
Tessaya kicherte. »Gut. Ich bin froh, dass Ihr es nicht für nötig haltet, Euch zu rechtfertigen. Außerdem kenne ich die Überzeugungen der Schwarzen Schwingen, und ich teile sie. Ich glaube, Euer einziges Verbrechen ist Eure Naivität. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Feldzug nicht infrage kommt, dann müssen wir hoffen, dass die Xeteskianer zuschlagen. Wenn wir weiter annehmen, dass sie genau wie wir die Vorherrschaft im Land der Magier gewinnen wollen – was werden sie dann tun?«
Diese Frage konnte Devun beantworten, weil Selik es ihm gesagt hatte. »Sie wollen nach Julatsa«, erklärte er. »Um zu vollenden, was Ihr begonnen habt.«
»Genau. Dadurch helfen sie auch uns, und zugleich locken sie einen großen Teil der Belagerungsarmee von ihren Mauern fort, die sie natürlich aufhalten will. Falls sich dies bewahrheiten sollte, könnte ich mich überzeugen lassen, ebenfalls zuzuschlagen.«
»Was soll ich dann tun?«
»Kehrt nach Xetesk zurück. Beobachtet sie, bis sie ihren Vorstoß unternehmen, falls sie das wirklich tun. Vergesst nicht: Wenn sie keinen Ausfall unternehmen, dann hilft uns das ebenso, wie uns ihr Marsch gegen Julatsa helfen würde. Und wenn sie sich ergeben, dann würde ich sogar vorschlagen, dass wir als Erstes gegen Julatsa ziehen.«
»Ihr seid anscheinend sehr gut informiert«, sagte Devun.
»Nein«, erwiderte Tessaya, »aber ich kann erraten, was in den Köpfen der Militärführer vorgeht. Deshalb lebe ich noch.«
»Ich habe bereits gehört, welche großen Taten Ihr vollbracht habt«, sagte Devun.
»Es waren lediglich notwendige Entscheidungen, damit mein Volk nicht ausgelöscht wurde.« Tessaya winkte beschwichtigend ab. »Wir müssen noch über eine weitere Angelegenheit sprechen, ehe Ihr wieder aufbrecht – nämlich über die Frage, was die Wesmen durch ein solches Bündnis zu gewinnen hätten. Ich gehe doch davon aus, dass Ihr die Autorität besitzt, mir zu gewähren, was ich verlange.«
»Sagt mir, was es ist, und ich will alles in meiner Macht Stehende tun, damit Ihr es bekommt«, sagte Devun.
»Ah, genau da liegt ja das Problem. Wie groß ist Eure Macht? Und bitte begeht nicht den Fehler zu glauben, wir
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