Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
Spätfrühling passen. Keine Vögel zwitscherten, keine Hunde bellten, nirgends spielten Kinder. Kein Geräusch war draußen zu hören außer dem gespenstisch heulenden Wind.
Wie an jedem Tag fragte er sich auch heute, wie wohl die Bedingungen ringsum im Land wären, wo die Dämonen praktisch ungehindert herrschten. Wie viel schlimmer musste es für die Menschen sein, die dort draußen noch lebten. Die meiste Zeit hatte er sich allerdings in seiner eigenen Verzweiflung gesuhlt und nicht im Traum daran gedacht, dass es jemanden geben könnte, der ein schrecklicheres Los als er selbst zu tragen hatte.
Von außerhalb kamen kaum Neuigkeiten herein. Immer weniger Nachrichten hatten sie erhalten, während die Jahreszeiten einander abwechselten und der Widerstand zwangsläufig schwächer wurde. Zuerst war die Sache noch recht einfach gewesen. Sie hatten die Lüftungsschächte der Katakomben geöffnet und Leute aufs Land schicken können. Anfangs hatten die Dämonen nur wenige Orte angegriffen. In der Wildnis hatte es reichlich Essen und Wasser gegeben, und die Überlebenden, die man fand, hatte man in die sicheren Kalträume von Xetesk gebracht. Einmal war es ihnen sogar gelungen, die Dämonen von den Mauern des Kollegs zu vertreiben und einen Teil der Stadt zurückzuerobern.
Doch die Lage hatte sich als unhaltbar erwiesen. Der Einsatz der Magie wirkte wie ein Leuchtfeuer auf jeden Dämon, und Xetesk hatte bei den überraschenden, starken Angriffen im ganzen Magierland eine Reihe von Magiern verloren. Magier, auf die der Herr vom Berge eigentlich nicht hätte verzichten können.
Langsam hatten sie sich wieder zurückgezogen, nachdem ihre Zahl durch die Angriffe der Dämonen geschrumpft war. Krankheit und Niedergeschlagenheit schwächten die Lebensgeister. Mit einem Heilspruch konnte man nicht viel erreichen, und die Aufladung des Mana war mit Gefahren verbunden. Xetesk verfügte nur noch über drei kleine Bereiche in den Katakomben, die die Dämonen noch nicht gefunden hatten, und wo ein Magier außerhalb eines Kaltraums schlafen und seine Energien auffrischen konnte, um Sprüche zu wirken. Selbst dies musste unter den wachsamen Augen von Aufpassern geschehen, die jederzeit bereit waren, die Schlafenden ein paar Handbreit in die relative Sicherheit zurückzuzerren, falls sie entdeckt werden sollten.
Der Einflussbereich Xetesks umfasste jetzt nur noch den Turmkomplex und die nördlichen Katakomben. Alles andere gehörte den Dämonen. Suchtrupps versuchten immer noch, Essen und Brennstoff aufzutreiben, doch ihre Ausflüge erwiesen sich als wahre Albträume. Nur die Gewissheit, dass sie sonst verhungern würden, trieb die Männer dazu, sich aus den beweglichen Kalträumen herauszuwagen, die sie perfektioniert hatten, seit sie außer Zeit nicht mehr viel hatten. Nichts konnte allerdings garantieren, dass sie auch wohlbehalten zurückkehrten. Es war unglaublich, was Männer und Frauen leisten konnten, wenn sie keine Wahl hatten.
Wenigstens verfügten sie über Wasser. Sie hatten in den Katakomben Brunnen gegraben. So konnten sie das bisschen Essen, das sie hatten, zu dünnen Suppen verlängern und sich satttrinken. Wärmen konnten sie ihre Speisen auch – Steine, die mit gebündelten Feuerkugeln oder der Flammenhand behandelt wurden, reichten dazu völlig aus, beanspruchten allerdings die sowieso schon schwindenden Mana-Reserven.
Dystran blickte, solange er konnte, zu den umherschwirrenden Dämonen hinaus, die sich in Xetesk und im Umland tummelten, und zum Riss im Himmel, der das verhasste Symbol für Balaias fast vollständige Unterwerfung geworden war. Von den kleinen Plagegeistern in der Größe von Kätzchen bis zu den Ungeheuern mit Tentakeln, die sie »Vollstrecker« nannten, hatten alle ihren Platz und ihre Aufgabe. Die Tatsache, dass die Dämonen so gut organisiert waren, machte ihn besonders wütend, denn dies hielt ihm vor Augen, dass Xetesk trotz seiner tausend Jahre währenden Zusammenarbeit mit den Dämonen im Grunde nichts über sie gelernt hatte. Wenn doch nur auch das Gegenteil wahr gewesen wäre.
Der Anblick der Menschen deprimierte ihn. Es brach ihm das Herz, wenn er bemerkte, wie einer zum Turm hochschaute. Ohne Mut, ohne Hoffnung. Allein gelassen. Aber immer noch bauten, pflanzten, aßen und schliefen die Menschen. Sicherlich zeugten sie auch noch Kinder. Sie konnten nicht anders, denn das war ein Aspekt des Menschseins, der selbst den schrecklichsten Bedingungen trotzte. Über allem flogen die
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