Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
grelle Lichter. Hirad fühlte sich, als schwebte er aus dem knarrenden Schiff hinaus, fort von den Befehlen, die auf Deck gerufen wurden, fort vom Kreischen der Möwen in der Luft. Er kämpfte nicht dagegen an, er wusste nicht einmal, wie er sich wehren konnte. Sein letzter klarer Gedanke war der, dass er zum Glück nicht auf dem Deck zusammengebrochen war. Er wollte nicht, dass die anderen sich Sorgen machten.
Auf einmal hörte er ein Dröhnen. Es ging mit dem Licht einher, das inzwischen viel zu grell war, als dass er noch etwas hätte erkennen können, auch wenn Hirad sicher war, dass sich dahinter etwas bewegte. Das Dröhnen schwoll zu einem wilden, gleichmäßigen Lärm an. Tausend Rammböcke und Knüppel, die durchbrechen wollten. Er fragte sich gar nicht erst, wo das stattfand. Begleitet wurde der Tumult von lautem Geschrei, schwach zuerst, aber dann lauter. Es kam näher.
Er hatte es schon einmal gehört. Es war der Lärm von Wesen in Panik, die mit höchster Eile aus dem Gefahrenbereich
getrieben wurden. Ungeordnet, voller Schrecken und Angst. Er glaubte sogar, die Schatten hinter den Lichtern zu erkennen, aber das konnte auch ein Trugbild sein.
Hinter seinen Augen baute sich ein Druck auf, der rasch zunahm. Irgendwie pochte sein Kopf im Einklang mit den Schreien, die schmerzhaft in seinen Ohren kreischten, und dem Dröhnen, das allmählich in den Hintergrund trat. Das Pochen schwoll an, unausweichlich wie die hereinbrechende Flut, und wie die steigenden Wellen drohte es ihn einzuhüllen und zu verschlingen.
Auch die Schmerzen wurden stärker, bis er kaum noch etwas anderes empfand. Er glaubte zu schreien, konnte aber im Lärm des Getümmels hinter dem Licht seine eigene Stimme nicht hören. Zusammen mit den Schmerzen kam auch die Wärme einer Erinnerung. Eine geistige Berührung, als hätte er einen alten Freund getroffen.
Ob es Sha-Kaan war? Hirad öffnete den Mund, um ihn zu begrüßen, doch dann raste der Geist mit einem Schrei durch ihn hindurch, und er erwachte abrupt. Blinzelnd sah er sich im Zwielicht in der Kabine um und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. All die zarten Gefühle der Begegnung waren noch da, all die Energie, die Lebendigkeit und die Liebe seines ältesten Freundes. Doch dahinter lauerte die Furcht, im Nichts zu verschwinden. Real und beinahe körperlich fühlbar schrie ihn jeder Muskel an, während er im Kopf ein dumpfes Dröhnen wie von einer warnenden Sirene vernahm.
Unvermittelt setzte er sich auf, weil er Angst hatte, die Dunkelheit könne ihn vollends verschlingen. Irgendjemand hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt.
»He, immer mit der Ruhe«, sagte Erienne. »Lass dir Zeit.«
Es dauerte eine Weile, bis Hirad sie klar sehen konnte. »Wie lange bist du schon hier?«
»Seit du zum ersten Mal Ilkars Namen gerufen hast.«
»Ich wusste es doch!«
Hirad schwenkte die Beine aus der Koje und stand auf. Erienne stützte ihn.
»Wo willst du hin?«
»Auf Deck. Rebraal muss es auch gefühlt haben.«
»Was denn?«
Hirad stürmte an ihr vorbei und riss die Tür auf. »Ilkar. Er ist direkt durch mich durchgelaufen. Er hatte Angst.«
»Das ist nicht …«
Hirad hielt sich nicht damit auf, Eriennes Verwirrung zu beheben. Er trottete durch den kurzen Gang zur Achtertreppe und stieg hinauf zu den frischen Gerüchen und dem hellen Licht an Deck. Die Sonne spielte auf dem Holz, die Segel flatterten gemächlich in der leichten Brise, die Seeluft stieg ihm in die Nase.
Rebraal hatte sich gesetzt und an eine Kiste angelehnt, er war vom Raben und den TaiGethen umgeben. Der Unbekannte gab ihm eine Tasse, und er trank. Sein Gesicht war kreidebleich, sein Blick wanderte unstet hin und her, bis er Hirad entdeckte.
»Du hat es auch gefühlt«, sagte Hirad.
Rebraal nickte. »Mit jeder Faser meines Körpers.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass er gehetzt wird. Es bedeutet, dass die Dämonen die Türen einschlagen. Es bedeutet, dass sie glauben, einen Zugang gefunden zu haben.« Rebraal hielt inne und seufzte. »Es bedeutet, dass wir den Wind brauchen. Ich glaube, den Toten läuft die Zeit davon.«
Sechzehntes Kapitel
Dystran sorgte dafür, dass die Überlebenden genug Platz hatten und etwas zu essen und warme Decken bekamen. Er hatte sie in seinen Turm geführt und drei von ihnen in seine Privatgemächer eingeladen. Ihnen war kalt, aber immerhin waren die Stühle dick gepolstert und bequem. Oft genug hatte sich auch Dystran in einen dieser Stühle sinken
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