Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
tropische Pflanze», erklärte er.
«Oh.»
«Aber dir wird schon nicht schwindelig werden, wenn du zu lange hinschaust. Vielleicht wirst du ein bisschen reizbar, aber du kannst ja auch woanders hinschauen, meine Liebe. Man wird hier bestens für dich sorgen. Und wie ich bereits sagte, ich werde sofort zu dir eilen, wenn ich zurückkehre.»
«Ist es ein Geheimnis, dass ich mich in diesem Haus aufhalte?»
«Nicht für jene, die wichtig sind. Aber es gibt ein paar Personen, die glauben, dass nur diejenigen sich hier aufhalten dürfen, die unseren Blutes oder mit einem aus unserem Klan verheiratet sind. Und zumindest im Moment muss ich auch deren Ansichten respektieren.»
Er zeigte zur Decke.
«Was? Halten sie sich … da oben auf?»
«Nein.» Er lächelte sie an. «Ich wollte nur sagen, dass es da oben noch einen niedrigen Dachboden gibt. Wir benutzen ihn als Lagerraum. Aber wenn du rastlos bist, von dort oben hat man eine noch schönere Aussicht. Fast wie aus der Vogelperspektive an einigen Stellen – wenn du keine Angst vor Höhen hast.»
«Nein, die habe ich nicht.»
«Gut. Von dort kannst du sämtliche Kirchturmspitzen Londons zählen.»
Angelica dachte an die Kirche, die sie besucht hatte, und fragte sich, ob wohl auch sie von dort oben zu sehen war. Da auf der Turmspitze natürlich kein Kreuz mehr prangte, war es sehr wahrscheinlich, dass sie allein aus diesem Grund von den anderen Kirchen zu unterscheiden sein würde.
Sie nickte. «Und ich nehme an, ich darf wirklich dort hinaufgehen. Sonst würdest du mir schließlich gar nicht von dem Dachboden erzählen.»
«Ganz genau. Es ist schwer, dich irgendwo eingeschlossen zu halten. Da dachte ich mir, ich erteile dir die Erlaubnis lieber selbst, bevor du mir gegenüber Ungehorsam übst.»
Sie gab ihm einen Schubs gegen die Brust und lachte über seinen Kommentar. «Jetzt geh. Ich werde mir schon die Zeit vertreiben.» Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Abschiedskuss.
Die Stunden vergingen schnell. Sie fand einen Roman, der sie eine Zeit lang unterhielt, legte ihn dann aber irgendwann beiseite, um ihr Kleid und das Unterkleid zu flicken – eine Aufgabe, die sie an jenem Tag der Rastlosigkeit unterbrochen hatte.
Als sie damit fertig war, entschied Angelica, noch vor Sonnenuntergang hinauf auf den Dachboden zu steigen, um ein wenig die Aussicht zu genießen. Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich und erklomm eine enge Wendeltreppe, die von einer kleinen Ecke im Flur unters Dach führte.
Eigentlich hatte sie mit muffigem Geruch gerechnet, als sie die Tür am Ende der Treppe aufstieß. Doch der Bodenraum war geradezu luftig und trotz der Wolken am Himmel recht hell.
Angelica trat an ein Fenster und kniete sich davor. Sie konnte zwar aufrecht stehen, aber der Blick war so hinreißend, und sie wollte ihn so lange genießen, bis der Tag sich dem Ende neigte.
Zu ihrer Linken war das majestätische weiße Gebäude der St. Paul’s Cathedral zu sehen. Die Sonne schien glühend auf ihren kolossalen Dom, so als wollte sie die Kirche segnen. Es schien tatsächlich, als könne sie von hier oben alle Kirchturmspitzen Londons sehen, die sich hoch und weiß über den niedrigeren Gebäuden erhoben. Und um sich eine Freude zu bereiten, zählte sie sie tatsächlich. Ah, da war ja auch jene ohne Kreuz.
In größerer Nähe, als sie gedacht hatte.
Angelica spürte ein leicht prickelndes Unbehagen in sich aufsteigen. Wieso war es ihr so leichtgefallen, einem Fremden gegenüber die Beichte abzulegen, und wieso fiel es ihr so schwer, sich Semjon zu offenbaren?
Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, sagte sie sich mit der Stimme der Vernunft. Und schließlich war sie an jenem Tag äußerst aufgebracht und sich ihrer selbst ganz und gar unsicher gewesen. Das Gefühl von Gefangenschaft löste schon in guten Zeiten eine große Vernunftwidrigkeit in ihr aus – und dies waren alles andere als gute Zeiten.
Ihr Herz machte einen kurzen Hüpfer, als sie ganz weit unten seinen Kopf mit den zersausten Haaren entdeckte. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass er ansonsten makellos gepflegt war. Das Weiß seines Hemdes mit dem steifen Kragen hob sich leuchtend von dem schlichten Stoff seines maßgefertigten Mantels ab. Er marschierte schnellen Schrittes in Richtung Osten, so als hätte er etwas äußerst Wichtiges zu erledigen.
Nach und nach wurde Angelica bewusst, dass Semjon verfolgt wurde. Und zwar von einem kleineren Mann mit
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