Die letzte Geisha: Eine wahre Geschichte (insel taschenbuch) (German Edition)
können?
Die Mutti Matsumura, Herr Yasu, Ganni, alle haben sich um mich gesorgt und mir was zu essen gebracht.
»Ihr wißt doch genau, daß es nichts nützt, mir zuzureden. Und wenn ich das esse, kommt denn davon mein Bruder zurück?«
Ich konnte nicht anders, als sie so anzuschreien.
Hinter der Uniklinik steht irgendein großer Baum, der sichin meiner Brusthöhe gabelt, und der eine Ast war abgesägt worden. Als ich meinem Bruder beistand, habe ich jeden Abend die Hände auf die Schnittfläche gelegt und gebetet:
»Mach mich auch so glücklich wie andere Menschen!«
Irgendwann habe ich nämlich sagen hören, daß große Bäume die Menschen glücklich machen. Ich bin sogar zu dem Baum gegangen und habe ihm gesagt, daß ich ihm böse bin.
»Ich hatte dich doch darum gebeten, mich glücklich zu machen! Wenn du göttliche Kräfte besitzt, warum hast du dann nicht den Selbstmord meines Bruders verhindert?«
Etwa einen Monat bin ich wie eine Schlafwandlerin herumgeirrt, ohne etwas zu tun und ohne jeden Lebenswillen. Herr und Frau Matsumura holten mich in diesem Zustand mit Gewalt in ihre Wohnung und sagten mir:
»Jetzt, da du ganz alleine bist, sei unser liebes Kind!«
Wenn ich ausgehen wollte, schickten sie mir heimlich ein Kind hinterher, und wenn ich mich in mein Haus einschloß, wachten sie den ganzen Tag über mich. Obwohl ich nicht ihrer Nationalität bin, sorgten sie auf die rührendste Weise dafür, daß ich mir nichts Unvernünftiges antat. Wenn ich zwei Tage lang nichts zu mir nahm, brach die Mutti in Tränen aus und sagte:
»Wenn du nichts ißt, esse ich auch nicht. Wenn es dir egal ist, daß ich sterbe, dann mach ruhig weiter so!« Sie drohte oder redete mir begütigend zu, um mich zum Essen zu bewegen.
Eine Weile war mir, als lebte ich in einer Welt ohne Töne und Licht, und dachte nur verstört, ich möchte sterben; wie schön wäre es, tot zu sein! Ich hatte keine Kraft, mich aufzuraffen.
Zurück nach Suwa
In der Absicht, meinen Bruder wenigstens an der Seite seines Vaters zu bestatten, verließ ich Chiba. Noch immer sehe ich die Gestalt der Mutti Matsumura vor Augen, die mich in weißer koreanischer Trauertracht bis Shinjuku begleitet und mehrfach gesagt hatte:
»Du mußt unbedingt wiederkommen! Sei unser Kind!«
Alle haben sie sich bis zuletzt äußerst behutsam um mich gekümmert, damit ich nicht durchdrehe, so sanft, als betaste man ein Geschwulst.
Nach Shiojiri zurückgekehrt, gab ich bis auf einen 1000-Yen-Schein alles Geld, das ich hatte, meiner Tante und ließ mich für eine Weile bei ihr aufnehmen. Am nächsten Tag ging ich zum Grab des Vaters, grub lange Zeit mit den Händen und einem Stück Ast, bis ich ein Loch geschafft hatte, in das ich die Urne mit den sterblichen Resten meines Bruders vergrub. Wiegenlieder singend bedeckte ich es mit Erde und blieb da, bis es dunkel wurde. Auch danach ging ich täglich zum Grab und sang Wiegenlieder. Ich hoffte nämlich, wenigstens das tröste die Seele meines Bruders, der niemals von seiner Mutter Wiegenlieder zu hören bekommen hatte …
Die Leute in der Umgegend glaubten offenbar tatsächlich, ich sei wahnsinnig geworden, und, so soll man meiner Tante berichtet haben, fürchteten sich, wenn sie den Weg unterhalb des Grabes entlanggingen und mich Wiegenlieder singen hörten. Ob es stürmte oder ob es schneite, immer ging ich zum Grab. Damit wollte ich mich gegen die Leute auflehnen, etwa im Sinne von »hat denn von euch irgendwer je etwas für diesen lieben Jungen getan?«
Bald kam das Neujahrsfest 1953. Es schneite viel, und auch die Erdbrocken auf dem Grab meines Bruders waren von Schnee zugedeckt. Ich fühlte mich nicht wohl und fröstelte, so daß ich darauf verzichtete, die Grabbesuche fortzusetzen. Ich beschloß, nach Suwa zu gehen.
Ich hatte nichts Besonderes in Suwa vor, sondern wollte nur einfach das Wasser des Sees sehen. Als ich nach langer Zeit wieder in den Handspiegel blickte, um mich zu kämmen, war mein Gesicht blaß und die Augen verkniffen. Erschrocken meinte ich, so sieht wahrhaftig das Gesicht einer Irren aus.
Die Stadt Suwa war von der Geschäftigkeit des Neujahrstrubels erfüllt. Die Weiden am Seeufer, der Inari-Schrein, mein »geheimer Ort«, alles war noch wie früher. Vater und Mutter des Takenoya waren nach Kōbe umgesiedelt, und ich besuchte daher die Patronin des Ichiriki.
»Wie geht's dir denn so? Wo bist du denn gewesen? Du siehst ja aus wie ein Leichnam, auf, komm rein!« sprudelte die Patronin des
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