Die letzte Odyssee
Überfälle gefaßt wurden, ging das Gesetz schonend mit ihnen um. Wie sollte man diese neuen Verbrechen denn auch ahnden – schließlich war doch niemand wirklich zu Schaden gekommen, nicht wahr? Viele von den Tätern wurden, nachdem sie eine kurze Strafe verbüßt hatten, von ihren ehemaligen Opfern sogar in aller Stille als Mitarbeiter eingestellt, nach dem alten Grundsatz, daß ein Wilderer immer noch den besten Wildhüter abgibt.
Hinter dieser Form der Computerkriminalität steckte ausschließlich Habgier, keiner der Täter wollte die Organisation zerstören, die er systematisch ausplünderte. Wer schlachtet schon die Gans, die die goldenen Eier legt? Aber im gleichen Revier tummelten sich auch Feinde der Gesellschaft, und die stellten eine sehr viel größere Gefahr dar …
Im allgemeinen handelte es sich um asoziale Einzelpersonen – vor allem junge Männer in der Pubertät, die ganz allein und natürlich im verborgenen arbeiteten. Die von ihnen entwickelten Programme wurden über die globalen Kabel- und Funknetze oder mit Datenträgern wie Disketten oder CD-ROMs auf dem ganzen Planeten verbreitet und sollten nur heillose Verwirrung stiften. Wenn alles in Panik geriet, freuten sich die Täter diebisch, und ihr verkümmertes Ego schwelgte in Machtgefühlen.
Wenn man diesen auf die schiefe Bahn geratenen Genies auf die Schliche kam, wurden sie oft von nationalen Geheimdiensten für nicht weniger obskure Tätigkeiten engagiert – meist handelte es sich darum, in die Datenspeicher gegnerischer Dienste einzubrechen. Das war vergleichsweise harmlos, denn die betreffenden Organisationen besaßen immerhin noch einen Rest staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins.
Ganz anders die Weltuntergangssekten. Sie waren begeistert von den neuen Waffen, die sehr viel wirkungsvoller und leichter einzusetzen waren als Gas oder Krankheitserreger. Und sehr viel schwerer zu bekämpfen, da sie in Millionen von Büros und Wohnungen gleichzeitig geschickt werden konnten.
Der Zusammenbruch der New-York-Havanna-Bank im Jahre 2005, der Abschuß indischer Atomraketen 2007 (zum Glück mit nicht aktivierten Sprengköpfen), die Abschaltung des PanEuropäischen Flugsicherungssystems im Jahre 2008, die Blockierung des nordamerikanischen Telefonnetzes im gleichen Jahr – all das ging auf das Konto religiöser Gruppen, die das Jüngste Gericht probten. Dank glänzend koordinierter Abwehrmaßnahmen seitens der normalerweise wenig kooperationsbereiten, ja rivalisierenden nationalen Geheimdienste konnte jedoch auch ; diese Bedrohung langsam eingedämmt werden.
Jedenfalls glaubte das die Allgemeinheit: seit mehreren hundert Jahren hatte kein Anschlag die Gesellschaft mehr in ihren Grundfesten erschüttern können. Das war vor allem dem Zerebralhelm zu verdanken – auch wenn es Stimmen gab, die glaubten, damit sei der Sieg zu teuer bezahlt.
Der Streit um die Freiheit des Individuums bzw. die Pflichten des Staates war schon alt gewesen, als Plato und Aristoteles versuchten, ihn in Gesetze zu fassen, und würde vermutlich bis zum Ende der Zeiten weitertoben. Doch im dritten Jahrtausend hatte sich ein provisorischer Konsens herausgebildet. Man war allgemein der Ansicht, der Kommunismus stelle zwar die vollkommenste Staatsform dar; aber leider – eine Erkenntnis, die hunderte Millionen von Menschenleben gekostet hatte – nur für staatenbildende Insekten, Roboter der Klasse II und ähnlich eingeschränkte Zielgruppen. Für die von Natur aus unvollkommenen Menschen sei die Demokratie, häufig definiert als ›Individuelle Habgier, gebremst durch eine leistungsfähige, aber nicht übereifrige Regierung‹, die erträglichste Lösung.
Bald nachdem der Zerebralhelm allgemein in Gebrauch gekommen war, erkannten einige hochintelligente – und äußerst eifrige – Bürokraten, daß er sich auch ganz ausgezeichnet als Frühwarnsystem einsetzen ließ. In der Installationsphase, wenn der neue Träger mental ›einjustiert‹ wurde, konnte man alle möglichen Psychosen im Anfangsstadium entdecken, bevor sie sich zu einer Gefahr auswuchsen. Oft ergab sich die Therapie schon aus dem Befund, wenn aber keine Aussicht auf Heilung bestand, konnte man den Patienten elektronisch kennzeichnen oder im Extremfall gesellschaftlich isolieren. Natürlich waren mit dem Verfahren nur diejenigen zu erfassen, die sich einen Zerebralhelm anmessen ließen – aber gegen Ende des dritten Jahrtausends war der Helm zu einem ebenso unverzichtbaren Bestandteil des
Weitere Kostenlose Bücher