Die letzte Odyssee
etwas nicht doch passierte?
Der Vorschlag, die letzten Blatternerreger in Seuchenbekämpfungszentren in den Vereinigten Staaten und in Rußland zu lagern, hatte Ende des 20. Jahrhunderts einen Aufschrei der Empörung ausgelöst – verständlicherweise. Immerhin bestand eine wenn auch nur geringe Chance, daß sie durch Katastrophen wie Erdbeben, technische Pannen – oder sogar durch gezielte Sabotageakte terroristischer Gruppen freigesetzt wurden.
Endlich fand sich eine Lösung, die alle (bis auf ein paar extreme Vertreter der Bewegung »Rettet die lunare Wildnis!«) zufriedenstellte. Die Keime sollten auf den Mond verfrachtet und in einem Labor am Ende eines kilometerlangen Schachts untergebracht werden, den man in den Pico gebohrt hatte, einen freistehenden Berg, eins der Wahrzeichen des Mare Imbrium. Am gleichen Ort deponierte man im Laufe der folgenden Jahre auch die bedeutendsten Ausgeburten fehlgeleiteten menschlichen Erfindergeistes – um nicht zu sagen, menschlichen Wahnsinns.
Da gab es Gase und Sprays, die schon in mikroskopisch kleinen Dosen sofort oder langsam tödlich waren. Einige waren das Werk religiöser Fanatiker, die sich ungeachtet ihrer Geisteskrankheit die dazu erforderlichen naturwissenschaftlichen Kenntnisse angeeignet hatten. Viele dieser Wirrköpfe glaubten, das Ende der Welt sei nahe (nur sie und ihre Anhänger würden der Vernichtung selbstverständlich entgehen). Und falls Gott zu zerstreut sein sollte, um sich an die Vorgaben zu halten, gedachten sie dafür zu sorgen, daß der Fehler korrigiert wurde.
Als erstes suchten sich diese Sektierer für ihre Anschläge so neuralgische Punkte aus wie überfüllte Untergrundbahnen, Weltausstellungen, Sportstadien oder Popkonzerte … es gab Zehntausende von Toten und unzählige Verletzte, bevor es Anfang des 21. Jahrhunderts endlich gelang, dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Wie so oft, hatte das ganze auch sein Gutes, denn es zwang die Polizeiorganisationen weltweit zu einer nie dagewesenen Zusammenarbeit. Eine derart unberechenbare Form der Willkür konnten selbst diejenigen Staaten, für die der Terrorismus bis dahin ein Mittel der Politik gewesen war, nicht mehr tolerieren.
Die chemischen und biologischen Waffen, die bei diesen Anschlägen – wie auch in früheren Kriegen – eingesetzt worden waren, landeten schließlich in der Schreckenskammer im Inneren des Pico. Die Gegenmittel, so vorhanden, legte man gleich mit dazu. Man hoffte, daß die Menschheit nie wieder auf solche Waffen würde zurückgreifen müssen, aber man wollte sie unter strenger Bewachung weiterhin verfügbar halten – für besonders verzweifelte Notfälle.
Was in der dritten Abteilung im Archiv des Pico lag, verdiente ebenfalls die Bezeichnung ›Seuchen‹, obwohl dadurch noch nie jemand getötet oder verletzt worden war – jedenfalls nicht direkt. Diese Plagen existierten erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, hatten aber in wenigen Jahrzehnten Schäden in Höhe von vielen Milliarden Dollar verursacht und so manches Leben ebenso zerstört wie eine körperliche Krankheit. Es handelte sich um Seuchen, die den neuesten und universellsten Diener der Menschheit befielen, den Computer.
Ihre Namen entstammten medizinischen Wörterbüchern Viren, Prionen, Bandwürmer – doch es waren Programme, die mit oft unheimlicher Genauigkeit das Verhalten des jeweiligen organischen Vorbilds kopierten. Manche waren harmlos und verspielt – sie ließen lediglich zur Überraschung oder zur Erheiterung des Betrachters Bilder oder komische Texte auf dem Monitor erscheinen. Doch es gab auch andere, die es gezielt darauf anlegten, eine Katastrophe auszulösen.
Das Motiv war in den meisten Fällen reine Geldgier; diese Programme waren Waffen, mit denen raffinierte Verbrecher Banken und Wirtschaftsunternehmen, die inzwischen vollkommen auf das reibungslose Funktionieren ihrer Computersysteme angewiesen waren, zu erpressen suchten. Wenn die Warnung erging, zu einem bestimmten Zeitpunkt würden die Datenspeicher automatisch gelöscht, falls der Betroffene nicht soundsoviele Megadollar auf ein anonymes Nummernkonto überweise, war kaum ein Opfer bereit, einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu riskieren. Die meisten bezahlten in aller Stille und oft, um sich eine öffentliche oder private Blamage zu ersparen, ohne die Polizei zu verständigen.
Dank dieses verständlichen Wunschs nach Diskretion hatten die Netzwerkräuber leichtes Spiel. Selbst wenn sie bei einem ihrer elektronischen
Weitere Kostenlose Bücher