Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Sprung zwischen der Gefrierfachtemperatur der Hotellobby und der schwülen Hitze draußen.
Zwei junge Mädchen kamen vorbei: breite Gürtel, Jeans und pastellfarbene T-Shirts, die den Blick auf den Bauchnabel freigaben. Ein Typ lehnte sich aus dem Fenster eines kleinen Fiat und rief etwas in römischem Dialekt. Die Mädchen ignorierten ihn.
Liam drehte sich zur Tür, in der Hoffnung, Molteni auftauchen zu sehen, aber die Lobby war immer noch leer. Die Sachekam ihm kurios und auch ein bisschen beunruhigend vor. Er konnte sich nicht erinnern, seinen alten Freund in all den Jahren jemals so aufgeregt gesehen zu haben. Nicht nur hatte er seine Fragen in der Buchhandlung nicht beantwortet, auch bis zur Ankunft im Hotel hatte er nur um den heißen Brei herumgeredet. Und was sollte diese schwere Aufgabe sein, auf die er angespielt hatte? Was konnte einen betagten, pensionierten Theologieprofessor vor eine schwere Aufgabe stellen? Vielleicht ein gesundheitliches Problem? Unwahrscheinlich: Molteni war im Marschtritt von der Buchhandlung bis zum Hotel gegangen, hatte geredet wie ein Wasserfall und nie angehalten, um Atem zu schöpfen. Vielleicht also finanzielle Sorgen? Aber auch das war kaum denkbar: Er war ein Experte für Antiquarisches, Berater der wichtigsten italienischen Auktionshäuser. Und dann war er gerade erst von einem Türkeiurlaub zurückgekommen und in einem Hotel abgestiegen, das alles andere als billig war.
In Gedanken versunken, zog Liam das Handy aus der Sakkotasche. Er hatte im Antiquariat den Ton abgestellt und sah auf dem Display, dass ihm vor etwa einer Stunde ein Anruf entgangen war, außerdem hatte er eine SMS bekommen. Er ließ den Daumen über die Tastatur gleiten und öffnete das Menü. Der entgangene Anruf stammte von seiner Schwägerin Alanna, ebenso die SMS, die lakonisch lautete: »Ruf mich an.« Komisch, er hatte seit Monaten nichts von ihr gehört. Er zögerte einen Moment, ob er sie sofort anrufen oder einen günstigeren Zeitpunkt abwarten solle, als ein asiatisches Paar auf ihn zutrat.
»Kolosseum?«, fragte der Mann.
Liam war verblüfft: Sie waren ganz schön weit ab vom Schuss. Er kramte in seinem Gedächtnis und beschrieb dann grob den Weg, den sie einschlagen mussten. Die beiden bedankten sich mit einer leichten Verbeugung und gingen in die angegebene Richtung.
In diesem Moment befiel ihn eine merkwürdige Empfindung: Er meinte, in der Luft ein dumpfes Sirren zu hören und hatte das Gefühl, dass etwas Ausladendes über seinem Kopf schwebte.
Es war eine Frage von Sekundenbruchteilen. Nach einem Flug über vier Stockwerke krachte Andrea Molteni neben Liams Füßen auf das Straßenpflaster.
ZWEITER TEIL
Alle Dinge gründen sich auf die Zahl, denn sie ist derart beschaffen, dass wir ohne sie weder etwas denken noch wissen könnten. Die Natur der Zahl und der Harmonie gestattet keinen Betrug, denn der Betrug ist ihr nicht eigen.
Philolaos
9
Ort: Patagonien, Region Chubut
Weltzeit: Dienstag, 23. Juni, 10.01 (GMT)
Ortszeit: 7.01 Uhr
Der Jeep holperte über die Piste. Er verlor für eine Sekunde die Bodenhaftung und krachte dann wieder auf die Fahrbahn, wobei er eine Staubwolke aufwirbelte, die noch dichter war als die in seinem Rücken.
Im Wageninnern klammerte Michael Doornick sich noch fester an den Beifahrergriff und warf dem Fahrer einen prüfenden Seitenblick zu. Ricardos Gesichtszüge verrieten keinerlei Emotion. Der Bursche war geübt im Schlagloch-Rodeo und schien nicht gewillt, das Tempo zu drosseln.
Doornick dagegen fühlte sich, obwohl er diesen Weg seit einem Monat täglich zurücklegte, gar nicht wohl. Weder in diesem Landstrich noch bei diesen Leuten, die ihn allzu sehr an Mexiko erinnerten, wo er die letzten drei Jahre gearbeitet hatte. Ihm gefiel weder die allzu große Vertraulichkeit Ricardos noch die Unterwürfigkeit, mit der ihn alle anderen Argentinier behandelten, denn er wusste genau, dass sie seine Auftraggeber für Invasoren hielten, die sie abschätzig
terratenientes
– Feudalherren – nannten. Aber was hatte er im Grunde damit zu schaffen? Er war ein Lohnabhängiger wie sie, wenn auch sicher der bestbezahlte. Die Wahrheit war, wie einmal ein alter Campesino zugegeben hatte, eine einzige: Argentinien war ein Land im Ausverkauf. Ex-Präsident Menemhatte die Veräußerung einer Landfläche genehmigt, die über 1,7 Millionen Hektar entsprach. Aber das war erst der Anfang: Im September des Vorjahres waren nicht weniger als 45,5
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