Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
eine zweite Schriftrolle existierte.
Schließlich waren sie zum ersten Mal zusammen hinunter in die Krypta gestiegen, um die Öffnung der Tür der Sanduhren zu zelebrieren. Der neue Hüter war unbekleidet, wie es die konstantinische Regel vorschrieb:
Und der Meister möge Sorge tragen, dass der Hüter die Krypta nackt betrete, um zu verhindern, dass er unter seinen Kleidern die Schriftrolle oder eine heimlich gefertigte Kopie verberge.
Molteni dagegen war am Rad geblieben, auch er folgte damit den Vorschriften der Regel:
Und der Schrein möge fern der Pforte zur Krypta stehen, damit es dem Meister nie gestattet werde, die Prophezeiung kennenzulernen, da diesem obliegt, am Eingang zu verharren.
All das gehorchte dem Ritus, der
die Schriftrolle vor einem etwaigen Verrat des Meisters bewahrt, da der Hüter, falls er dessen gewahr wird, die Schriftrolle sofort vernichten kann;
und der sie auch schützt vor
einem etwaigen Verrat des Hüters, denn es liegt in der Macht des Meisters, den Hüter beim allergeringsten Verdacht lebendig zu begraben, indem er das Rad loslässt.
Die konstantinische Regel war peinlich genau befolgt worden, und doch musste der Hüter Molteni hintergangen haben. Die Vision der Novizin ließ keinen Zweifel, sie hatte sogar ein Detail erklärt, das er bis dato nicht durchschaut hatte: Der neue Hüter war mit ihm in die Krypta hinabgestiegen, wobei er eine ungewöhnliche, nach Weihrauch duftende Fackel mitgeführt hatte, er hatte sie in ihre Halterung gesteckt und dann nackt die Krypta der Schriftrolle betreten. War das der Trick, fragte sich Molteni jetzt, mit dem er sie vernichtet hatte? Indem er womöglich das verwendet hatte, was die Regel ihm zubilligte? Er erinnerte sich an den Passus:
Und dem Hüter sei möglich, die Schriftrolle im Falle unvermittelter Gefahr unverzüglich den Flammen zu übergeben, deren stille Seele in geringer Menge im Schrein neben der Schriftrolle gelagert werden soll.
Es handelte sich dabei um eine Ampulle mit Pulvern, die das legendäre Griechische Feuer entfachen konnten, die tödliche Trockenflamme, die über Jahrhunderte die byzantinischen Küsten gesichert hatte.
Wenn die Vision der Novizin stimmte, hieß das, dass Molteni sich wie ein Kind hatte übertölpeln lassen. Der Weihrauch war nicht von ungefähr da gewesen: Er hatte den Geruch der verbrannten Schriftrolle überdeckt. Danach war der neue Hüter herausgekommen, als wäre nichts gewesen.
Wer hätte mit so etwas rechnen können? Die Präsenz eines Verräters innerhalb eines Ordens, der für den Rest der Welt gar nicht existierte. Wie hatte sich dieser Mann so geschickt unter die Beschützer der Prophezeiung einschleusen und sogar das Vertrauen des Hüters gewinnen können? Wie war es ihm gelungen, über ein Jahrzehnt lang seine Absichten zu verbergen, ohne dass jemand auch nur das Geringste geahnt hätte? Wenn die Dinge sich so verhielten, dann bedeutete das eine Katastrophe, und Molteni war sich durchaus darüber im Klaren, dass in gewisser Weise er dafür verantwortlich war. Er musste unverzüglich nach Ephesus zurückkehren und sich persönlich davon überzeugen, ob die Vision der Novizin der Wahrheit entsprach.
Molteni nahm seinen Koffer und öffnete ihn auf dem Bett. Nach wenigen Minuten hatte er gepackt. Blieb noch eine Sache zu tun, die wichtigste: Er musste seinem Nachfolger eröffnen, welche Rolle ihm zugedacht war. Das Protokoll war zwar eben erst in Gang gesetzt worden, doch seine Lage zwang ihn, die Prozedur zu beschleunigen.
Jemand klopfte an der Tür.
Das muss Liam sein, dachte Molteni. Er wird keine Lust mehr haben, länger zu warten. Er ging öffnen und rang sich ein Lächeln ab, aber dieses Lächeln erstarb sofort auf seinem Gesicht.
8
Ort: Rom
Weltzeit: Dienstag, 23. Juni, 9.54 Uhr (GMT)
Ortszeit: 11.54 Uhr
Liam wurde langsam ungeduldig. Molteni war vor zwanzig Minuten aufs Zimmer gegangen, und er selbst hatte sich in die kleine Hotelhalle gesetzt, um auf ihn zu warten. Er blätterte zerstreut in einer Ausgabe des
Messaggero
herum, aber die Einstellung der Klimaanlage war wirklich übertrieben. Er stand auf und ging an die Rezeption.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Portier, indem er den Blick vom Computermonitor hob.
»Könnten Sie Professor Molteni bitte mitteilen, dass Mister Brine draußen auf ihn wartet?«
»Sicher«, nickte der Mann.
Liam bedankte sich und trat durch die Glastür ins Freie. Er blieb auf dem Gehweg stehen und kämpfte mit dem extremen
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