Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
geistesabwesender Blick war an einem Wandkalender hängengeblieben: ein Aquarell, das zwei Polizisten darstellte, einen Mann und eine Frau, in deren Rücken man einen Dienstwagen und den Schriftzug »Juni« erkennen konnte.
Liam hatte den Nachmittag im gerichtsmedizinischen Institut zugebracht, dann war er nach Hause gegangen. Er hatte nicht einen Bissen hinuntergebracht und, einmal im Bett, die ganze Nacht kein Auge zugetan. Die Gedanken, die ihn in all den Stunden verfolgten, ließen nur einen Schluss zu: Molteni war ermordet worden.
Es gab keine andere Erklärung. Am Vortag hatte der Professor nervös und verängstigt gewirkt, aber sicher nicht wie ein potentieller Selbstmörder. Es stimmte, er hatte Andeutungen gemacht, dass ihm etwas Sorgen bereite. Aber wahr war auch, dass er von einer »schweren Aufgabe« gesprochen hatte, bei der er Liams Hilfe benötige. Und dann dieses letzte Wort –
Buch
–, zu obskur, noch dazu aus dem Mund eines Sterbenden, um von ungefähr zu kommen.
Und schließlich der Ring.
Was hatte Molteni ihm mit diesem Wort und diesem Objekt mitteilen wollen? Er konnte nicht zufällig so gehandelt haben, da hatte Liam keinen Zweifel. Wahrscheinlich waren beides Indizien, die zum Mörder oder den Mördern führten. Und dann quälte Liam noch eine andere Frage: Ob er alles für sich behalten oder mit dem Vizeinspektor Pasolini darüber sprechen sollte, der am Vortag als Erster am Schauplatz der Tragödie eingetroffen war und ihn in ein paar Minuten erneut vernehmen würde. Das Geheimnis zu enthüllen hieß auch, der Polizei den Ring auszuhändigen, und Liam hatte nicht die Absicht, das zu tun, auch wenn er nicht recht wusste, warum.
Der junge Beamte, der ihn vor einer halben Stunde hatte Platz nehmen lassen, betrat den Raum. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Professor Brine, Vizeinspektor Pasolini erwartet Sie in seinem Büro.«
Während sie durch den Korridor liefen, begegneten sie zwei älteren Damen in schrillen Kleidern. Ihr amerikanischer Akzent war unüberhörbar. Der Polizist klopfte an die Tür, aus der die beiden gekommen waren, und wartete.
»Herein«, sagte eine Stimme von drinnen.
Sein Begleiter öffnete die Tür, ließ ihn eintreten und schloss die Tür wieder hinter ihm.
Liam stand in einem Raum, der so aseptisch und aufgeräumt wirkte wie das Archiv einer Bank. Hinter einem fast leeren Schreibtisch saß ein gutaussehender Mann in Uniform, um die vierzig, dunkler Teint, perfekt rasiert und mit einem absolut makellosen Haarschnitt. Er tippte noch etwas in seinen Laptop, dann erhob er sich und beugte sich vor, um Liam die Hand zu geben.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Professor Brine. Ich weiß, dass das ein sehr schwieriger Moment für Sie ist«, empfing der Vizeinspektor ihn höflich. Sie nahmen Platz.
»Eine reine Formsache«, redete Pasolini weiter. »Sie waren der Letzte, der Professor Molteni vor seinem Selbstmord gesehen hat.«
»Ich halte einen Selbstmord für ausgeschlossen«, erwiderte Liam ruhig.
Pasolini warf ihm einen sibyllinischen Blick zu.
»Möchten Sie darüber sprechen?«, fragte er.
Liam beschrieb ihm genau die Begegnung mit Molteni vom Vortag und den Ablauf der Ereignisse. Er gab in allen Einzelheiten wieder, wie beunruhigt der Freund im Antiquariat gewesen und was anschließend passiert war, ohne jedoch den Ring zu erwähnen und das letzte, rätselhafte Wort, das Molteni ausgesprochen hatte.
Als es so aussah, als hätte Liam nichts weiter zu sagen, setzte der Polizist wieder mit seinen Fragen ein:
»Seit wann kannten Sie den Professor?«
»Seit meiner Studienzeit. Ich war sein Schüler.«
»Vor wie vielen Jahren?«
»Ungefähr zwanzig. Ich war gerade aus Dublin gekommen, mit einem Stipendium des Trinity College, wo ich mein Studium in Geschichte der Religionen des Mittelmeerraums und des Mittleren Ostens abgeschlossen hatte.«
Pasolini schwieg.
»Hier in Rom, an der PUST, habe ich meinen Doktor in Theologie gemacht«, fühlte Liam sich verpflichtet anzufügen. »Der Professor war einer der brillantesten Theologen des Instituts.«
Der Polizist nahm die Augen vom Computermonitor.
»Er lebte aber seit Jahren in Turin.«
»Nach der Pensionierung war er dorthin gezogen.«
»Und warum nach Turin?«
»Er liebte das Piemont. Solange ich ihn kannte, hat er immer seine Weihnachtsferien dort verbracht …«
»Ja, das wissen wir«, erklärte Pasolini. »Und hatten Sie weiterhin Kontakt?«
»Regelmäßig.«
Der Vizeinspektor sah ihn schweigend
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