Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
an.
»Ich bin Waise«, erklärte Liam, »und mein Bruder ist in Dublin geblieben. Seit ich nach Italien gekommen bin, war der Professor nicht nur ein Lehrmeister, sondern auch eine Art Vater für mich.«
Der Polizist schien für einen Moment nicht ganz da zu sein. »Gab es, soweit Sie wissen, finanzielle Probleme?«, fragte er dann.
»Unmöglich. In Turin besitzt er eine Bibliothek von ungeheurem Wert. Und außerdem arbeitete er immer noch als Berater für Antiquariate und Auktionshäuser.«
Pasolini tippte schweigend das Protokoll.
»Er war eine echte Autorität, was religiöse Texte betrifft«, fügte Liam hinzu.
»Wissen Sie etwas von einer Erkrankung?«
»Nein.«
»Könnten Sie es ausschließen?«
Liam schwieg einen Moment. »Es ist unmöglich, das auszuschließen. Aber er schien mir in blendender Verfassung.«
Sein Handy klingelte. Es war seit dem Vortag abgeschaltet gewesen, und ihm war erst im Wartesaal eingefallen, es wieder anzustellen. Er hatte zwei weitere Anrufe von seiner Schwägerin vorgefunden, wollte sie aber erst nach der Vernehmung zurückrufen. Auf dem Display erschien erneut Alannas Name. Er nahm das Gespräch an und sagte hastig: »Ich kann gerade nicht, Alanna, ich rufe dich zurück.« Dann unterbrach er die Verbindung, ohne ihr die Möglichkeit zu einer Erwiderung zu geben, schaltete das Handy ab und steckte es in die Innentasche des Jacketts.
»Entschuldigen Sie.«
»Warum schließen Sie aus, dass er sich umgebracht haben könnte?«, fragte Pasolini unvermittelt.
Liam dachte ein paar Sekunden nach. »Es gibt verschiedene Gründe. Zuerst einmal war er gläubiger Katholik …«
Der Vizeinspektor schien durch diese Antwort nicht sehr überzeugt.
»Und dann, na ja … Ich war dort, mit ihm, wir mussten etwas erledigen. Er hatte mich gebeten, auf ihn zu warten, und gesagt, er werde in wenigen Minuten wieder herunterkommen … Er hatte nicht den geringsten Grund, sich umzubringen.«
Für einen Moment schien sich in Pasolinis kalten, professionellen Blick so etwas wie Mitgefühl zu mischen. »Sehen Sie, Professor Brine, nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist immer so. Wenn sich jemand umbringt, dann können es alle, die ihm nahestanden, gar nicht fassen …«
»Er hat sich nicht umgebracht!«, stieß Liam hervor. »Das wiederhole ich schon seit gestern.«
Pasolini fixierte ihn stumm.
»Nicht so«, Liam schüttelte den Kopf. »Ohne wenigstens einen Abschiedsbrief zu …« Er brach den Satz ab, weil er merkte, wie pathetisch er klang. »Jemand hat ihn hinuntergestoßen«, schloss er mit Entschiedenheit.
Der Vizeinspektor erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Den Rücken an einen Aktenschrank gelehnt, fuhr er schließlich fort: »Hören Sie, Professor Brine, ich bin ein gewissenhafter Mensch. Und das hier ist ein Selbstmord, glauben Sie mir. Nach Ihren Worten von gestern haben wir den Rahmen für Untersuchungen, wie sie bei einem Fall wie diesem möglich sind, voll ausgeschöpft.« Er setzte sich wieder an den Rechner und fuhr mit der Maus über eine Graphik. Nun war es Liam, der zuhörte, ohne zu unterbrechen.
»Zuerst einmal: Aus den Vernehmungen der Angestelltenund Gäste des Hotels geht nicht hervor, dass irgendwer etwas Verdächtiges im Zimmer des Subjekts gehört oder gesehen hat«, fing er an. »Außerdem wurden auf der Glastür und dem Geländer des kleinen Balkons eindeutig die Abdrücke der vier Finger der rechten Hand des Subjekts sichergestellt. Es gibt auch keinerlei Einbruchspuren, die darauf hinweisen könnten, dass sich jemand in böswilliger Absicht Zugang zu seinem Zimmer verschafft hat … Weiter scheint nichts zu fehlen: Der Tote trug eine Armbanduhr im Wert von zirka zweitausend Euro, und in seiner Brieftasche fand man rund tausend Euro in Fünfziger- und Zwanzigernoten … Und zu guter Letzt: Die Koffer lagen auf dem Bett, vollständig gepackt und verschlossen. Wie die eines Menschen, der mit der Welt abgeschlossen hat.«
Liam wollte etwas sagen, aber Pasolini hieß ihn mit einer Handbewegung schweigen, um selbst fortzufahren: »Ich habe auch die Telefonverbindungen des Zimmeranschlusses überprüft. Sie selbst haben uns gestern bestätigt, dass Molteni kein Handy besaß.«
Der Vizeinspektor nahm ein Blatt aus der einzigen Akte, die auf seinem Schreibtisch lag, und überflog es: »Professor Molteni hat während seines gesamten Aufenthalts nur vier Anrufe entgegengenommen und keinen einzigen selbst getätigt. Zwei gingen von Ihrem Handy aus, Professor
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