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Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige

Titel: Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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gestrigen Abend betreten hatte, hatte sie sich beinahe schon auf das Weben gefreut.
    Der Webstuhl war verschwunden gewesen.
    »Es ist Zeit für neue Lektionen«, hatte Ivalaine gesagt. »Lady Aryn, Ihr werdet weiterhin mit Tressa lernen, obwohl ich glaube, daß ihr mit dem Gärtnern fertig seid. Und da ich von dem Rat in Beschlag genommen werde, werdet Ihr eine neue Lehrerin bekommen, Lady Grace.«
    Erst in diesem Augenblick hatte Grace die andere Person gesehen, die im Raum stand. Smaragdgrüne Wolle raschelte. Sie trat vor, korallenrote Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
    »Lady Grace, es ist Zeit zu lernen, was es wirklich bedeutet, eine Hexe zu sein.«
    Grace erschauderte und konzentrierte sich wieder auf den eisigen Garten.
    »Was muß ich tun?«
    Kyrene runzelte die Stirn; es war ein hübsches Stirnrunzeln. Sie mußte es viele Male vor dem Spiegel geübt haben. »Das ist die falsche Frage, Lady Grace.« Sie kam näher heran. »Was möchtet Ihr tun?«
    Grace wollte den Kopf schütteln. Was meinte Kyrene? Es spielte keine Rolle, was sie …
    Nein, sie wußte es. Alles um sie herum war immer so fern, so entrückt. Aber sie wollte es berühren, wie die Fäden des Webstuhls unter ihren Fingern – die üppige Pracht des Wintergartens. »Ich will fühlen«, sagte sie. »Ich will alles fühlen.«
    Ein Lächeln umspielte Kyrenes roten Mund. Sie nahm Graces Hand und führte sie tiefer in die Grotte. Sie blieben stehen, und die Gräfin fing an, die Schärpe um Graces Taille zu öffnen.
    Grace wich zurück. »Was soll das?«
    »Ihr braucht diese Kleidung nicht.«
    »Aber es ist eiskalt …«
    Kyrenes sonst so weiches Gesicht nahm einen Ausdruck der Strenge an. »Ich bin Eure Lehrerin, Schwester.«
    Grace spannte sich. Kyrene war eitel, vielleicht sogar gefährlich. Doch sie wußte Dinge – Dinge, die Grace lernen wollte. Sie senkte die Arme und trat vor.
    Die Gräfin fuhr mit geschmeidigen Händen über Graces Gewand, entknüpfte Knoten, zog Träger herunter. Grace stand stocksteif da und starrte geradeaus in die Heckenmauer. Seit ihrem Aufenthalt im Beckett-Strange-Heim für Kinder hatte die Vorstellung, vor anderen nackt zu sein, ihr Entsetzen eingejagt. Das war durchaus logisch, die Ärztin in ihr wußte das. Lange nachdem die Male verschwunden waren, war die Furcht geblieben, als könnten die anderen noch immer die Stellen sehen – wie Schatten auf der Haut –, an denen man sie berührt hatte.
    Das Gewand rutschte zu Boden, und Grace entschlüpfte ein leiser Aufschrei, als die Winterluft einen neuen, eiskalten Mantel um ihren Körper legte. Sie fing an zu zittern.
    »Es ist kalt«, sagte sie durch die klappernden Zähne.
    »Das muß es nicht sein, meine Liebe.«
    »Was … was meint Ihr?«
    Kyrene deutete auf die Mauern aus ineinander verschlungenen Sträuchern und Zweigen um sie herum. »Man muß nicht frieren, wenn um einen herum soviel Leben ist.«
    »Ich verstehe nicht.« Die Luft war feucht. In dieser Umgebung brauchte es nur wenige Minuten, bevor die ersten Symptome der Hypothermie einsetzten. Auf dieser Welt war sie bereits einmal beinahe erfroren, und sie hatte nicht vor, es noch einmal zuzulassen.
    Kyrene blickte sie bloß an, und ihr Lächeln glich einer roten Schlange.
    »Sagt es mir«, verlangte Grace. Sie wußte, daß Kyrene genau das wollte, daß sie bettelte, aber es war ihr egal. Sie mußte es wissen. »Sagt es mir, bitte!«
    In den Augen der Gräfin blitzte Zufriedenheit auf. »Aber natürlich, Schwester. Ihr brauchtet nur zu fragen.«
    Kyrene stellte sich neben sie und murmelte ihr ins Ohr: »Schließt die Augen, meine Liebe.«
    Grace gehorchte.
    »Jetzt greift zu und berührt das vor Euch wachsende Immergrün.«
    Es schien ein seltsamer Befehl zu sein, aber Grace hob die Arme, um zu gehorchen.
    »Nein, Schwester, nicht mit den Händen. Ihr habt die Gabe. Greift mit Eurem Bewußtsein zu, berührt es mit Euren Gedanken.«
    Wovon redete Kyrene da? Grace schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts mit meinen Gedanken berühren.«
    Kyrenes Flüstern war leise und so kalt wie Schnee. »Dann werdet Ihr erfrieren, Schwester.«
    Graces Körper wurde mittlerweile von Krämpfen geschüttelt, aber ihr war klar, daß die bald aufhören und eine unwiderstehliche Schläfrigkeit sie überwältigen würde. Das war der Anfang vom Ende. Grace wollte einen Schritt machen, aber Kyrenes Worte summten in ihrem Schädel, und sie fühlte sich wie angewurzelt, als wäre sie selbst ein Baum, schlank und bleich,

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