Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
anging.
Es dauerte nicht lange, und er ertappte sich dabei, daß er sich auf die allabendliche Chorversammlung freute. Für gewöhnlich diskutierten die Runensprecher die Alltagsgeschäfte des Turms, aber sie beendeten die Zusammenkunft stets damit, daß sie einen leisen Gesang anstimmten, der aus Runen bestand. Obwohl er nur ein paar der Runen verstehen konnte, ließ er sich von dem dichten Klangteppich bezaubern, den die Runensprecher in der wispernden Luft des Chorgemachs Stimme um Stimme und Schicht um Schicht webten.
Obwohl er den größten Teil des Tages entweder mit Eriaun und Larad oder im Chorgemach verbrachte, blieb ihm trotzdem etwas Zeit für sich selbst, und die nutzte er dazu, den Turm zu erforschen. Eines Nachmittags erklomm er die Treppe bis nach oben und zählte dabei zweihunderteinundfünfzig Stufen. Er kam zu einer dreieckigen Plattform, die keine fünf Schritte durchmaß und von drei Minaretten eingegrenzt wurde, die den Turm krönten.
Jahre des Autofahrens über schmale Paßstraßen in den Rocky Mountains hatten Travis an Höhen und das Gefühl des Ausgeliefertseins gewöhnt, trotzdem erfaßte ihn die Losgelöstheit des Schwindels, als er in die steil abfallende Tiefe blickte. Bis zum Boden des Felsvorsprungs, aus dem der Turm herausgemeißelt worden war, ging es sechzig Meter pfeilgerade Wände hinunter, und von dem zerklüfteten Rand zu der braungelben Steppe, die in südlicher Richtung bis zum Horizont reichte, waren es noch einmal weitere dreihundert Meter.
Travis begab sich auf die andere Seite der Plattform. Der Ausblick behagte ihm schon eher; jenseits des Abgrunds erhob sich eine steile Bergkette mit messerscharfen Gipfeln nach der anderen, die sich weit in den Norden erstreckten, bis der Dunst sie unkenntlich machte. Das waren die Fal Erenn – die Morgenrotberge. Ein schmaler Kamm verband den Felsvorsprung mit dem direkt gegenüberliegenden Berg; man hatte einen schmalen, kurvenreichen Fußweg in ihn hineingeschlagen.
Travis verfolgte den Weg zurück bis zu dem Felsvorsprung. Direkt vor dem Turmeingang befand sich der einzige waagerechte Platz auf dem Felsen, ein unregelmäßig geformter Halbkreis von etwa dreißig Meter Durchmesser. Genau in der Mitte dieses Plateaus befand sich ein Umriß, der so dunkel war, daß Travis ihn zuerst für eine Grube hielt. Dann kniff er die Augen zusammen und erkannte die Wahrheit.
Es war ein Monolith. Aus dieser Entfernung war seine genaue Größe unmöglich zu bestimmen, aber Travis war klar, daß, sollte er sich darunter stellen, ihn der Stein weit überragen würde. Was war sein Zweck? Er erschien so verloren, so ganz allein auf dem Plateau.
Mehrere Minuten der Beobachtung ergaben keine Antwort – dafür drohte der heiße Wind seine Augen auszutrocknen. Travis ließ sich von ihm zurück zur Treppe drängen.
Er hatte fast das Stockwerk seines Gemachs erreicht – das sich etwa in der Mitte des Turms befand –, als er in Bruder Eriaun hineinlief. Buchstäblich. Hätte er nicht schnell reagiert und nach Eriauns Kutte gegriffen, hätte der Bruder möglicherweise die letzte interessante Entdeckung seines Lebens gemacht: wie lange man brauchte, um zum Boden des Turms zu fallen.
»Nun, das war ein aufregendes Erlebnis«, sagte der Runensprecher, als er seine zerknitterte Kutte glatt zog. »Und ich entnehme ihm, daß Euch noch keiner die Treppenregeln erklärt hat.«
Travis richtete seine Nickelbrille. »Die Treppenregeln?«
»Auf der Innenseite nach oben, auf der Außenseite nach unten.«
»Oh. Ich werde beim nächsten Mal daran denken.«
»Davon bin ich überzeugt.« Eriauns kurzsichtiger Blick hellte sich auf. »Aber es war Olrigs Hand, die uns zusammengeführt hat. Denn ich wollte gerade zu Euch.«
Sie gingen nach unten – auf der Außenseite der Wendeltreppe.
»Was wolltet Ihr denn von mir, Bruder Eriaun?«
»Eigentlich nur eine Kleinigkeit. Ihr müßt wissen, jeder von uns hat seine Steckenpferde. Dinge, die einen interessieren. Ich zum Beispiel studiere seit vielen Jahren die Imsari.«
»Die Großen Steine?« fragte Travis überrascht.
»Genau. Ich bin schon seit vielen Jahren auf der Suche nach Informationen, die einem verraten, welche Runen man in welcher Reihenfolge sprechen muß, um einen der Steine gefahrlos zu benutzen. Nicht, daß es einen konkreten Anlaß dafür gäbe, da bin ich mir sicher. Aber Ihr wißt natürlich, daß man meistens aus Neugier forscht und nicht aus Notwendigkeit. Und ich wollte mit Euch sprechen,
Weitere Kostenlose Bücher