Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
rechte Handgelenk. Es war lange her, daß er sich so allein gefühlt hatte – nicht seit seinen ersten Tagen auf Eldh, als er mit Falken Schwarzhand durch den Winterwald gereist war. Dann mußte er an Grace Beckett denken und wünschte sich, sie wäre hier. Er hätte jetzt etwas von ihrer kühlen Logik brauchen können, eine Hilfe, um in alldem einen Sinn zu finden. Aber Grace war, meilenweit von diesem Ort entfernt, hinter den Mauern ihres Schlosses in Sicherheit.
»Der Chor hat begonnen!«
Oragiens Stimme hallte durch den Raum. Die Worte waren nicht laut – das brauchten sie an diesem Ort auch nicht zu sein –, aber sie waren hart und stählern. Der Großmeister stand nun gerade aufgerichtet da, seine blauen Augen funkelten so hell wie ein Blitzschlag. Also hatte Oragien doch noch Kraft.
Das Murmeln der Runensprecher verstummte, und es lag nur noch das Raunen uralter Stimmen in der Luft. Oragien sah Travis nicht an, als er sprach, sondern schaute über ihn hinweg.
»Ich habe diesen Chor zusammengerufen, wie es unsere Gesetze verlangen, auch wenn es nicht viel zu besprechen gibt. Wir kennen das Verbrechen und den Täter gut.« Einen Augenblick lang streifte der Blick des Großmeisters in Travis Richtung. »Was unser Orden nun tun wird, wo unser Wissensfundus nicht mehr existiert, ist eine Angelegenheit, die nicht eine Chorbesprechung benötigen wird, sondern Hunderte. Also ist die Frage, die sich uns heute stellt, ganz einfach.« Oragien zeigte mit dem Stab direkt auf Travis’ Herz. »Wir müssen nur über das Schicksal dieses Häretikers entscheiden.«
Travis biß die Zähne zusammen. Wenigstens würde er nicht das ganze Theater eines Gerichtsverfahrens über sich ergehen lassen müssen.
Oragien senkte den Stab. »Ist unter uns ein Mann, der etwas zur Verteidigung dieses Runenbrechers sagen will?«
Travis mußte lachen; wer würde schon so verrückt sein, ihn zu verteidigen. Glücklicherweise verschluckte die Rune der Stille den Laut. Dann sah er eine Bewegung.
Er war nicht der einzige, der mit offenem Mund zusah, wie eine kleine, dicke Gestalt die Treppe heruntergewatschelt kam, um vor dem Podium stehenzubleiben. Oragiens Brauen zogen sich unwillig zusammen.
»Bruder Eriaun, Ihr wollt für diesen Mann sprechen?«
»Ja, Großmeister.« Die kurzsichtigen Augen des Runensprechers blinzelten, als ein Zischen ertönte. »Ich meine, nein.«
Oragiens Stirnrunzeln vertiefte sich. »Was denn nun, Bruder Eriaun?«
Eriaun rang die Hände. »Ich will sagen, ich möchte nur zu allen sprechen, Großmeister. Darf ich?«
Oragien zögerte. »Also gut, Bruder Eriaun. Aber faßt Euch kurz.«
Der Runensprecher räusperte sich, dann stieg seine bebende Stimme in die Kuppel. »Ich frage mich nur, ob wir wissen, was wir da tun, das ist alles. Es hat den Anschein, als gäbe es heutzutage soviel, das wir nicht verstehen. Wir verstehen den Runenstein nicht.« Er biß sich auf die Lippe. »Das heißt, wir haben ihn nicht verstanden. Ich verstehe nicht, wie wir Bruder Wilder auf unsere Welt holen konnten, selbst mit der Hilfe, die wir hatten. Und vor allem verstehe ich seine Macht nicht. Einerseits ist er ein Runenmeister und zerbricht Runensteine, andererseits ist er kaum dazu fähig, die erste Runenliste eines Lehrlings zu lesen.« Er riß die Augen auf. »Oh, das sollte keine Beleidigung sein, Bruder Wilder.«
Travis konnte nicht anders, er mußte grinsen. Natürlich nicht.
Eriaun wollte weitersprechen, runzelte die Stirn und breitete die Arme aus. »Das ist soweit alles, was ich zu sagen habe. Aber wir waren etwas vorschnell mit Dingen, denen wir nicht ganz gewachsen waren, und ich finde, wir sollten uns hüten, jetzt wieder so zu handeln.«
Eriaun watschelte zu seinem Platz zurück. Es war ein tapferer Versuch gewesen. Aber schon bevor sich der nächste zu Wort meldete, wußte Travis bereits, daß er die Dinge nur schlimmer gemacht hatte.
»Bruder Eriaun hat recht«, durchschnitt eine harte Stimme die flüsternde Luft. »Es gibt viel, das wir nicht verstehen. Und es ist Zeit, daß sich das ändert.«
Bruder Larad schritt die Stufen zur Mitte des Gemachs hinunter. Er ignorierte sowohl Oragien wie auch Travis und wandte sich an die anderen Runensprecher.
»Es ist Zeit, daß wir verstehen, warum man ihn zu uns brachte. Es ist Zeit, daß wir verstehen, wie jemand auf den Gedanken kommen konnte, er wäre da, um uns zu helfen. Und es ist Zeit, daß wir verstehen, wer tatsächlich die nötigen Fähigkeiten hat,
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